Schiller im Kopf

Gesellschaft In der DDR wurde das Bürgertum abgeschafft. Jetzt kehrt es mit Macht zurück
Ausgabe 04/2019
Meissen war schon immer in Ost und West begehrt
Meissen war schon immer in Ost und West begehrt

Foto: Sean Gallup/AFP/Getty Images

Es gab Zeiten, da musste ein Mensch blaues Blut haben, um zur Elite zu zählen. Später wird die Zugehörigkeit zum Bürgertum unentbehrlich: exzellente Bildung, am besten beim Militär (ganz in der Doktrin des soldatischen Ideals), eine solide Ehe, weiße Hautfarbe, Männlichkeit, Konfessionalität einer bestimmten regionalen Ausprägung, Klavierspielen, Goethe-Gesamtausgabe im Schrank, Schiller im Kopf, Weihnachtsoratorium auf den Lippen und saubere Hände. Nicht zu vergessen und nochmals gesagt: Ein weißer Mann musste „man“ sein.

Als die jungen Jüdinnen aus Osteuropa über die Zwischenstation Zürich, die erste europäische Universität, die ihre Tore für Frauen öffnete, in die Bildungselite vordrangen, änderten sich die Parameter ein bisschen. Jetzt gab es erste weiße Frauen, die nach Lehrstühlen strebten. Erste Ärztinnen gründeten Praxen. Auch diese Frauen hatten ihren Schiller im Kopf, das Klavier in den Fingern, und die bürgerlichen Benimmregeln beherrschten sie im Schlaf. Bis zum Reformkleid, zum Bob und zur Zigarette war es noch ein langer Weg. Aber selbst in der Weimarer Republik dominierte die bürgerliche Herkunft das Milieu derer, die sich zur Elite zählten. So ist es scheinbar bis heute. Didier Eribon und Annie Ernaux haben anschaulich geschildert, wie nahezu unüberwindbar die Wand zwischen proletarischer und bürgerlicher Herkunft ist, wie „fein“ die Unterschiede auch sein mögen.

Was ist jetzt mit der „ostdeutschen“ Elite? Die DDR-Doktrin hatte das Bürgertum abgeschafft. Die Proletarisierung aller Schichten war das Programm. In der Platte lebten wir dann alle nebeneinander. Die einen hatten immer noch Goethe gesamt in der Schrankwand und hüteten eine Hand voll Meißner Tassen, manche stellten die Mitbewohnenden mit Klavierübungen auf die Probe. Andere erkämpften sich den Zugang zu einer Altbauwohnung im ruinösen Gründerzeithaus. Da war es im Winter kalt, aber die Decken waren hoch, und mit ein paar Möbeln von Omas Dachboden und einer Nickelbrille aus Opas Nachttisch kam doch bürgerliches Feeling auf. Fakt ist wohl, dass die unkritische Selbstverliebtheit einer abstammungsbedingten bürgerlichen Elite im Osten fast unmöglich geworden war. Wer war dann Elite? Ignorante Bonzen – oftmals aus dem Kleinbürgertum – gab es massenweise. Die sind zum Glück weggespült.

Auf der Suche nach einer „Elite“ im Osten heute erleben wir: Seilschaften sind ganz nützlich, Mannsein ebenfalls, Weißsein sowieso. Das Bürgerliche, das als Zugehörigkeit zu einer Schicht, erkennbar an einer bestimmten Attitüde, daherkommt, ist mit Macht zurückgekehrt. Aber es verbirgt sich viel „dritte Wahl“ hinter diesen bürgerlichen Fassaden. Es ist zum Heulen. Elite ist das nicht, auch wenn es sich selbst gern so nennt.

Ich wünsche mir eine Erlösung vom bürgerlichen Image. Ich wünsche mir ein Verständnis von Bürgerschaft, das nichts mit Klasse oder Herkunft zu tun hat. Klugheit, Lebensmut, Bereitschaft zur Einmischung und dazu, Verantwortung zu übernehmen, Tapferkeit zum Verzicht in einer Überflussgesellschaft, Abstand von Konsum in dieser Konsumgesellschaft, Mitgefühl für andere und Fremde: Liebe statt Gewinn. Das ist das Kriterium. Denken und Leben in den Zwischenräumen. Mehr Frausein in allen Spielarten des Geschlechtlichen. Gebären und Sterben. Beides mutig.

Christiane Thiel, 1968 in Freiberg geboren, arbeitet als Seelsorgerin in der Evangelischen Studierendengemeinde Halle/Saale

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