Auch wenn in Brüssel oft daran erinnert wird, dass beispielsweise 1986 die EU-Aufnahme Portugals die Zuwanderung von dort gebremst habe, bleiben Ängste vor einer "Überfremdung" Westeuropas, wenn mit der anstehenden Osterweiterung die Außengrenzen der Union nach Osten verschoben werden. Entsprechend groß ist der Druck auf Polen, seine Ostgrenze gegenüber Weißrussland und der Ukraine abzudichten.
Der Zoll- und Grenzposten bei Terespol-Brest in Ostpolen erinnert mehr an einen Flughafen-Terminal als an eine Grenzpassage. Ein gläsern-stählerner Moloch, der wie ein futuristischer Findling in diese dünn besiedelte, in sich gekehrte Landschaft geraten scheint. Er konterkariert die Vorstellung von einem Kontinent der kommunizierenden Röhren mit
nden Röhren mit der Brachialität einer Festung, die den einen Teil Europas gegen den anderen abschottet. Am Grenzübergang Koroszczyn sind die Vorbereitungen für Polens EU-Mitgliedschaft jedenfalls abgeschlossen und damit weiter als in Brüssel. Das Zentrum hat seine künftige Peripherie als Vorposten gegen eine undurchsichtige Nachbarschaft mobilisiert - im Fall Koroszczyn gegen Weißrussland. "Pathologien" im Grenzverkehr Finanziert aus Staats- und Privat(!)geldern sowie einem EU-Zuschuss von einer Million Euro können hier auf einem 30-Hektar-Areal bis zu 4.000 LKW in 24 Stunden abgefertigt werden - vorerst sind es etwa 1.000 pro Tag. Zwischen dem Terminal und der polnisch-weißrussischen Grenze verläuft eine videoüberwachte Zollstraße, die erst passieren kann, wer Wiegung, Röntgenkammer und Benzinanalyse überstanden hat. Jedem Fahrzeug wird eine Treibstoff-Probe entnommen, die mit der Zollerklärung kompatibel sein muss. 70 Prozent der abgefertigten Schwerlastzüge durchqueren Polen, aus Westeuropa kommend, als Transitland. 15 Prozent davon fahren weiter nach Weißrussland, 80 Prozent steuern die Russische Föderation an, der Rest andere GUS-Staaten. Auf polnischer Seite sind bis fünf Stunden Wartezeit normal, auf weißrussischer können es zehn werden. Das Europa der verschiedenen Geschwindigkeiten nimmt in Koroszczyn anschaulich Gestalt an - transkontinentale Korridore werden zu exterritorialen Kriechspuren. Was dabei an Schmuggelwaren in der Zoll-Schleuse hängen bleibt, reicht von Pelzen über Ikonen bis zum Üblichen: Zigaretten und Alkohol. Piotr Witkowski, Direktor der Lubliner Zollkammer, hat in diesem Jahr außerdem über 200 illegale Grenzübertritte zu Protokoll sowie 50 Schleuser in Gewahrsam genommen, die vergeblich den Schutzwall von Koroszczyn berannt hatten. "Solche Vorgänge zählen zu den normalen Pathologien im Grenzverkehr", leitet Witkowski eine Erklärung ein, die mit der Versicherung schließt, er empfinde die Normen der EU für ihre künftige Ostgrenze "nicht als Misstrauensvotum gegen Polen". "Wir haben hier eine Doppelfunktion - wir müssen die ökonomischen Interessen der EU wahren, dürfen aber den Handel nicht behindern. Denn letztlich soll das keine trennende Grenze sein, sondern eine Brücke." Die Brücke von Koroszczyn tritt momentan mehr als Barriere in Erscheinung. Die resolute Strenge, mit der sich Grenzen wie Staumauern dem "Wohlstandsgefälle" zwischen West und Ost entgegen stellen, provoziert - wieder einmal - die Frage: Wo eigentlich endet Europa? Und wer entscheidet darüber, dass Grenzübergänge zu Bastionen mutieren, damit ein mutmaßlicher Clash of Civilisations zwischen West und Ost kontrollierbar bleibt? Die Perfektion von Koroszczyn ist im Übrigen einigermaßen paradox, gibt es doch neben derartigen Anlagen nach wie vor eine 1.150 Kilometer lange, größtenteils "grüne Grenze" Polens nach Osten, über die sich auch nach der EU-Aufnahme ein inoffizieller "kleiner Grenzverkehr" erhalten dürfte. "Wir haben in den vergangenen Jahren das Personal aufgestockt, außerdem verstärkt Thermo- und Nachtsichtgeräte eingesetzt", lobt Witkowski Fleiß und Eifer der eigenen Behörden. Doch es sei natürlich völlig ausgeschlossen, die "grüne Grenze" hundertprozentig sichern zu wollen. Die Russen sind keine Europäer Die Frage nach heutigen und künftigen Grenzen Europas beschäftigt auch das Ukrainisch-Polnische Kollegium in Lublin, für das die ersten Studenten aus Kiew bereits immatrikuliert worden sind. 70 Prozent ihrer Landsleute in der Ukraine empfänden sich Umfragen zufolge als Europäer, ist Nadzieja Tkaczyk überzeugt. Das gelte natürlich auch für die Kommilitonen in Lublin. Und die Russen? "Die sind keine Europäer, dort herrscht eine andere Mentalität. Viele Russen denken zum Beispiel, die Ukraine gehöre ganz selbstverständlich zu Russland." Die Selbstgewissheit über die "europäischen Gene" der Ukraine muss mit der Tatsache leben, dass Polen mit seiner EU-Aufnahme vermutlich Mitte 2003 eine Visa-Pflicht für Ukrainer einführen wird. Ein Vorgang, der den Studentenaustausch behindern könnte und zugleich die Einkeilung Polens zwischen ost- und westwärts gerichteten Interessen zeigt. Der Sejm soll ein Gesetz vorbereiten, das den künftigen Status ukrainischer Studenten im EU-Land Polen komplikationslos regelt. Aber noch ist nichts entschieden. Es ist außerdem eine Legende, dass plötzlich "irgendwo im Osten" das ganz Andere anfängt. Die Übergänge sind vielmehr so fließend, dass man - etwa auf der Fahrt durch die Region von Terespol-Brest - beobachten kann, wie gelegentlich orthodoxe Kirchen auftauchen und manchmal - wie in Zamosc - eine der wenigen erhaltenen Synagogen zu sehen ist, deren Bauweise etwas von der Bedeutung der Region für die ehemals reiche - durch den Holocaust vollständig vernichtete - jüdische Kultur Polens ahnen lässt. Vom einstigen Zusammenleben dreier Religionsgemeinschaften - von Juden, Christen und Orthodoxen - möchte auch Andrzej Chorazy, Bürgermeister von Wlodawa an der polnisch-ukrainisch-weißrussischen Grenze, zehren. Wlodawa ist ein 15.000-Seelen-Städtchen, dessen Nachwende-Geschick dem vieler ostdeutscher Kommunen gleicht. Mitte der siebziger Jahre entstand mit einer Gerberei, die 12.000 Menschen beschäftigte, ein Großbetrieb, der die Wende von 1989/90 nicht überlebte. Resultat: 20 Prozent Erwerbslose - eine Rate, die in der Region noch von Zamosc und Lublin übertroffen wird. Bürgermeister Chorazy kämpft deshalb für Grenzpassagen statt Grenzbarrieren. "In meinen Augen die einzige Chance für einen kleinen Grenzverkehr, der sich auch wirtschaftlich auswirken kann. Auf Industrialisierung setzen wir kein zweites Mal ..." Eher denke er an Touristen aus Westeuropa, die sich hier die kulturhistorisch beachtenswerte Symbiose von orthodoxer, jüdischer und christlicher Tradition vor Augen halten können. Doch Chorazys Enthusiasmus springt nicht über. Unwillkürlich stellt sich das Gefühl ein, er überschätze die Attraktivität seiner Gegend. Vor allem, sein Anrennen gegen Grenzziehungen wirkt einigermaßen absurd, wenn alle in entgegengesetzter Richtung unterwegs sind.
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