Schlager

A–Z Obwohl der Schlager für Adorno ein Albtraum war, ist er nicht nur Trash: Er diente schon als Nationalhymne, im Pegida-Protest und als Heavy-Metal-Ersatz. Unser Lexikon
Ausgabe 47/2016

A

Altkleider Es spricht eher gegen eine CD, wenn sie nicht in verkauften Einheiten, sondern wie ein Klumpen Mett in Kilogramm gemessen wird. Als man in Dortmund kürzlich 4.500 Michael-Wendler-CDs in Altkleidercontainern fand, war es nur konsequent, dass viele Zeitungen auch das Gewicht von gut 1,5 Tonnen angaben. Die CDs, sagte „der Wendler“, seien von seinem Anwesen gestohlen worden.

Dass die Diebe ihre Beute aber wegwarfen, statt zu verkaufen, hat wohl lokale Gründe. Denn im Großraum Dortmund hat „der Wendler“ schon so ziemlich jedes Dorffest totgespielt (➝ Party), sodass fast jede Frau mittleren Alters mehrere Stunden verwackelter Handyvideos des „Wendlers“ auf ihrem S3 Mini hat. Und was ist schon eine Studioplatte gegen den süßen Schmerz des tauben Handyarms, der die vollen fünf Minuten von Nina, ich bin wieder im Fieber in die Luft gestreckt wird? Klar, dass die Diebe auf den eineinhalb Tonnen sitzen blieben. Die kommen sicher nicht von hier. Simon Schaffhöfer

B

Beat Fräuleins In den frühen 60ern, bevor sich die jungen Leute an den Unis politisierten, rumpelte die Beatmusik ins Land, keck, flott, mit viel „Yeah, yeah“. Der neue Sound wurde schnell auch mit deutschen Texten dargeboten. Damals nannte man das noch nicht Schlager, und vieles aus jener Zeit klingt noch heute verblüffend extravagant. Oder einfach witzig. Vor allem das, was weibliche Interpretinnen veröffentlichten. Unter dem Motto „Achtung Baby! Exploring the Groovy Side of Germany’s 60s Girl Singers“ sind ein Dutzend obskurer Vinyl-Perlen auf dem Album Beat Fräuleins (Indigo) versammelt. Brigitt, Marion, Pitty und ihre Beatchicks oder Joy & The Hit Kids sangen von einem aufregenden neuen Lebensgefühl, das wenig später in die Emanzipationswelle mündete. Auch wenn Pitty oder Marion dann vielleicht nicht selbst als Aktivistinnen dabei waren. Katja Kullmann

D

Drafi Deutscher Dieser einzigartige Sänger und Komponist erlebte das Sommermärchen nicht mehr. Er starb am Morgen des 9. Juni 2006, also gerade an dem Tag, als das Land, das seinen Namen trägt, die Fußballweltmeisterschaft eröffnete. Glück oder Unglück, schwer zu sagen, wie es auch über sein gesamtes Leben nicht eindeutig zu entscheiden ist. Höhen und Tiefen, Dramen und Erfolge, Krankheiten und ein zu früher Tod. Von allen späteren Schlagersängern unterschied ihn aber diese Ambivalenz (➝ Rock): Lieben war echtes Lieben, Scheitern war echtes Scheitern.

Wenn man Kommentare bei Youtube liest, so viel Pathos muss sein, ahnt man, wie aufrichtig Drafis Lieder die Menschen einmal bewegt haben. Für dieses Genre ist das eine ganze Menge, weil auch die Sprache nicht selten überraschte: In einem seiner fabelhaftesten Hits, dem 1986 erschienenen Herz an Herz Gefühl, heißt es so genial wie überraschend: „Seit du mich liebst / Ist mir jede Stunde ohne dich zu viel / Du machst mir Mut / Die Armee der Träume kleidet sich zivil.“ Man kann davon ausgehen, dass heutige Schlagersänger wie Helene Fischer diesen Satz gar nicht erst verstehen. Timon Karl Kaleyta

H

Hymne Als Konrad Adenauer im April 1953 zum Antrittsbesuch in die USA reiste, stellte er seine Gastgeber vor ein Problem. Was spielen, zu Ehren des westdeutschen Gasts? Zwar hatte sich Adenauer bereits 1952 mit Bundespräsident Theodor Heuss auf die dritte Strophe des Deutschlandliedes als Nationalhymne geeinigt, herumgesprochen hatte sich dies aber noch nicht. Das Chicagoer Empfangskomitee nutzte den kreativen Spielraum (➝ Widerstand) und stimmte das Karnevalslied „Heidewitzka, Herr Kapitän“ an. Offensichtlich wähnte man sich mit dem Gassenhauer aus der Feder Karl Berbuers auf der sicheren Seite. Adenauer war von der staatstragenden Qualität des Schlagers weniger überzeugt. Daniel Böldt

M

Musikantenstadl In der TV-Scheune (➝ Silbereisen) gibt es Schlager und Volksmusik, die ja aber nun mal nicht dasselbe sind. Musik, die vorgeblich noch mit der Hand gemacht wird, trifft auf Keyboard und Synthesizer. Beim einen geht es um Heimatverbundenheit, beim anderen um zwischenmenschliche Beziehungen. Allerdings sind die Rollen da eher traditionell, das haben beide gemeinsam. Auch im Bereich Fashion bleiben die Grenzen fließend – wie beim Österreicher Andreas Gabalier. Der macht „Volksrock ’n’ Roll“ in Lederhose und mit Ziehharmonika. Fans interessiert diese Trennung sowieso selten. Für die gibt es den Musikantenstadl allerdings nur noch an Silvester. Carolin Born

N

Neuanfang Gastarbeit gab es auch im Schlager, und wie in der Industrie war auch diese die reinste Maloche: den zivilisationsbrüchigen Deutschen singend die Hand zu reichen, sie zu integrieren in den Bund der Weltvölker. Populär waren grobschnitzige Phänotypen: singende Besatzer wie der Amerikaner Bill Ramsey und der Brite Chris Howland; kecke Skandinavierinnen wie Gitte und Wencke Myhre; heißblütige Südländer wie Costa Cordalis, Roberto Blanco und schwermütigere Frankobelgier wie Adamo, Mireille Mathieu, Charles Aznavour. Solitäre wie Nana Mouskouri, Howard Carpendale und Rudi Carrell nicht zu vergessen. Sie alle sangen mit Akzent und waren so erfolgreich, dass auch deutsche Interpreten sich bald verkleideten und einen Akzent trimmten:Hinter dem Folklorerussen Ivan Rebroff steckte Hans Rippert aus Berlin-Spandau, und der Kunstakzent des Berliners ➝ Drafi Deutscher sucht bis heute seinesgleichen. Sarah Khan

P

Party Schlager „beliefern die zwischen Betrieb und Reproduktion der Arbeitskraft Eingespannten mit Ersatz für Gefühle überhaupt, von denen ihr zeitgemäß revidiertes Ich-Ideal ihnen sagt, sie müssten sie haben“, sagte einst der Schlagerexperte und Bierpong-Weltmeister Theodor W. Adorno. Das war 1961/62 – und hätte Adorno damals schon geahnt, wer 50 Jahre später als Künstler getarnt auf die Bühnen Mallorcas und Südtirols gelassen wird, hätte er sich vor Verzweiflung in einem Eimer Sangria oder Glühwein (➝ Zechen) ertränkt.

Die frühen 90er Jahre hatten Nirvana, die späten Green Day, wir haben Mia Julia: das Endprodukt einer RTL2-Reality-Show, die sich vor hunderten testosteronbesoffenen Touristen auszieht, die gaffende Geilheit damit rechtfertigend, dass sie nun mal nicht „auf Männer, die mit warmem Wasser duschen“ stehe. Partyschlager ist offensichtlich das einzige Musikgenre, das ausschließlich zwischen den Beinen rezipiert wird. Simon Schaffhöfer

Pop Schon aus Distinktionsgründen sind Pop und Schlager zwei verschiedene Dinge. Spätestens seit den 1980ern gilt Schlager als uncool, eher was für Feuerwehr-Weihnachtsfeiern in Nordfriesland. Selbst die Schlager-Revival-Opfer der späten 90er hörten die Musik natürlich nur selbstironisch: hossa, hossa, hahaha. Deutschpop, seit einigen Jahren ziemlich erfolgreich, ist anders. Deutschpop ist cool, klingt meist eher nach britischem Fließbandpop mit deutschen Texten. Deutschpop ist urban, mit Drop-Crotch-Pants, Bart und Sonnenbrille.

Tatsächlich? Worin, bitte, unterscheiden sich die jüngsten Hits von Andreas Bourani, Christina Stürmer und Helene Fischer? Oder Wie schön Du bist von Sarah Connor? Die Grenzen zwischen Pop und Schlager sind eindeutig fließend (➝ Musikantenstadl). Ich konnte nach langer Recherche nur einen einzigen wirklichen Unterschied feststellen: Die Deutschpopper singen ausschließlich mit Kopfstimme. Sophie Elmenthaler

R

Rock Einige Schlagerstars wollten eigentlich Rocker werden, landeten aber beim Schunkellied – und gingen dann verschieden damit um. Roy Black trieb die ungeliebte Rolle als Schnulzenonkel in Alkohol und Depressionen. In der DDR erhielt Achim Mentzel als Beatnik Auftrittsverbot. Mit seinem Schlagerfuzzi-Image (➝ Altkleider) arrangierte er sich aber, nahm auch Auftritte in Autohäusern mit Selbstironie. „Ich spiele überall“, erklärte er mir einst im Interview. „14 Uhr, Subaru, da steh ich auf der Matte, mache eine Stunde lang mein Ding und abends dann die hehre Kunst.“ Im Herbst 2014 zog Mentzel in Leipzig wirklich vor Rockerpublikum vom Leder. Ein Metal-Veranstalter hatte ihn eingeladen. Mentzel rockte zwei Stunden lang, die Zuschauer bedankten sich mit ordentlich Pogo. Tobias Prüwer

S

Silbereisen Das Hochamt des deutschen Schlagers ist die Feste-Reihe der ARD, präsentiert von Florian Silbereisen. Der Ablauf ist schematisiert: Die singende Belegschaft um Andrea Berg und Semino Rossi gibt aktuelle Hits zum Besten, die Unkundige nicht von den Vorjahresnummern unterscheiden können. Silbereisen moderiert charmant und legt mindestens einen Stunt hin. Irgendwann wird ein Schlagerveteran angekündigt, meist die schon etwas gebrechliche Mireille Mathieu. Höhepunkt ist dann stets der Auftritt von Silbereisens Lebensgefährtin Helene Fischer (➝ Pop). Das überraschend junge Publikum bekommt das, was es erwartet: drei Stunden guter Laune in psychedelischer Kulisse. Uwe Buckesfeld

W

Widerstand Man kann sich heute kaum noch vorstellen, dass Operetten und Revuen in den 20er und frühen 30er Jahren Avantgarde (➝ Beat Fräuleins) waren. Hier dienten Schlager als politisch-ironisches Medium. Etwa das Lied An allem sind die Juden schuld aus Friedrich Hollaenders Spuk in der Villa Stern, wo es heißt: „Ob du hustest, ob du niest / An allem sind die Juden schuld!“ Mit dem Dreh ins Absurde nimmt es den grassierenden Antisemitismus aufs Korn, der hinter jeder Misslage eine jüdische Verschwörung behauptet.

Solchen kritischen Stachel schnitt der Nationalsozialismus ab. In den ersten, biederen Jahrzehnten der BRD konnte er dann kaum mehr wirklich nachwachsen. Und doch hat Schlager bis heute auch progressiv-politisches Potenzial. Wenn sich der Künstler traut. So wie Roland Kaiser. Der sprach sich 2015 deutlich gegen die rassistische Pegida aus, was mehr wirkte als viele andere Kritik. Kathrin Oertel, damals Mitorganisatorin, zeigte sich tief enttäuscht von ihrem Idol. Kaiser habe sich „politisch verkauft“. Tobias Prüwer

Z

Zechen Mit dem Ein-Meter-Strohhalm schlaflos durch die Nacht: Nur schwer ist die Verbindung von Strand, Eimer und Sangria am Ballermann zu kappen. Seit diesem Jahr ist im Mekka der Schlagertouristen (➝ Party) das Trinkgelage in der Öffentlichkeit unter Drohung von Bußgeld bis zu 3.000 Euro verboten. Ab Mitternacht fällt auch der Kauf von Alkohol im Geschäft flach. Dann bleibt nur noch der Indoor-Tanzbereich des Megaparks oder der eigene Vorrat im Hotelzimmer..

Für solche Durststrecken wäre Tony Marshall („Komm, gib mir deine Hand“) bestens vorbereitet. Denn ihn begleitet stets ein Koffer randvoll mit Flaschen seines badischen Lieblingsrotweins Hex vom Dasenstein – egal ob zu Konzert, TV-Auftritt oder privat. In einem Interview erklärte er dies mit dem lebensbejahenden Rat seines Arzts, „viel Rotwein zu trinken, weil das so gesund ist“. Nina Rathke

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