Schlusslicht Polen?

EU-Erweiterung Eine Diskussion über Geschlechtergleichstellung im neuen Europa

Man stelle sich einen europäischen Einigungsprozess vor, der, weil den Mitgliedsländern trotz jahrzehntelangen Versuchen die Verwirklichung der Chancengleichheit nicht gelungen ist, die Beitrittskandidaten zu Vorreitern in Sachen Geschlechterdemokratie machte. Neben Demokratie und Freiheit, Rechtsstaatlichkeit, wirtschaftlicher Stabilität und sozialer Sicherheit wäre die gerechte Beteiligung der Geschlechter ein entscheidendes Kriterium für den Beitritt. Die weibliche Beschäftigungsquote - Vollzeit! - beispielsweise hätte für die Beitrittskandidaten denselben Status wie die Inflationsrate, ein hoher Anteil von Frauen im Parlament wäre ebenso grundlegend wie das Wachstum des Brutto-Inland-Produkts.

Klingt zu schön, um wahr zu sein? De jure gäbe es durchaus eine Grundlage für eine solche geschlechterdemokratische Europapolitik. Denn im Vertrag von Amsterdam haben sich die Unterzeichnerstaaten 1999 zum Konzept des Gender Mainstreaming bekannt. Damit haben sie sich zumindest theoretisch dazu verpflichtet, sämtliche Maßnahmen ihrer Politik am Ziel der Gleichstellung von Männern und Frauen auszurichten. Und zwar auch solche, die nicht unmittelbar mit Geschlechterpolitik zu tun haben - den Erweiterungsprozess der Europäischen Union zum Beispiel.

Faktisch spielt die Geschlechterpolitik dort eine untergeordnete und merkwürdig zwittrige Rolle, wie Lisa Paus, europapolitsche Sprecherin der Berliner Grünen, beim 6. Geschlechterdemokratischen Dialog der Heinrich-Böll-Stiftung deutlich machte. Zwar habe die EU über die Vergabe von Mitteln durchaus Möglichkeiten, den Beitrittskandidaten im Rahmen der geförderten Projekte gleichstellungspolitische Anstrengungen abzuverlangen. Doch solange sich die nationalen Regierungen erfolgreich weigerten, innerhalb der EU klare Zielvorgaben für die Beteiligung von Frauen zu formulieren, brauchten auch die Anwärterstaaten keine harten geschlechterpolitischen Kriterien zu fürchten. Paus konkret: "Ganz sicher wird der Beitritt Polens nicht daran scheitern, dass das eine oder andere Gesetz zur Gleichstellung noch nicht berücksichtigt ist - allerdings wächst der Druck, dass das ins Bewusstsein kommt und ernster genommen wird."

Einen Druck, den das konservative Polen bitter nötig hat, wie Czeslaw Fiedorowicz, Abgeordneter der liberalen Freiheitsunion, in seiner Rede deutlich machte. Denn nach wie vor ist die offene Diskriminierung von Frauen in Polen an der Tagesordnung - insbesondere auf dem Arbeitsmarkt und bei der Stellensuche, wo illegale gynäkologische Zwangsuntersuchungen offensichtlich ebenso verbreitet sind wie Arbeitgeber, die ausschließlich männliche Bewerber einstellen. Grundlegender für das kontinuierliche Absinken der Beschäftigungsquote dürfte allerdings die Abschaffung der kostenlosen Kinderkrippen sein: Während 1991 noch 64 Prozent der Polinnen erwerbstätig waren, sind es heute nur noch 45 Prozent und damit deutlich weniger als im - ohnehin geringen - Durchschnitt der EU-Mitgliedsstaaten.

Wie wenig sich in Polen in den letzten Jahren geschlechterpolitisch bewegt hat, machte Fiedorowicz auch anhand einiger EU-Rahmenrichtlinien deutlich, die das polnische Parlament auf Eis gelegt hat. So wurde - obwohl von den zuständigen EU-Kommissionen immer wieder angemahnt - bislang weder die Einrichtung eines Gleichstellungsbeauftragten, noch die Umkehr der Beweislast bei Diskriminierung aufgrund des Geschlechts in nationales polnisches Recht umgesetzt; und auch die Einführung einer Pflichtquote lehnte der Seym mehrheitlich ab. Auf genau dieses Instrument setzt jedoch Fiedorowiczs Freiheitsunion, die sich bei den Parlamentswahlen im kommenden Herbst Chancen ausrechnet, von der Opposition wieder in die Regierung zurückzukehren. Dazu hat sie die Hälfte aller Listenplätze für Frauen reserviert. "Ohne eine größere Beteiligung der Frauen im Parlament erreichen wir in Polen gar nichts", ist sich der Dreiundvierzigjährige sicher.

Unbeantwortet blieb hingegen Fiederowiczs zentrale Frage. "Wenn der EU das Problem der mangelnden Chancengleichheit bewusst ist, warum verläuft dann der Prozess nicht so wie er sollte?", wollte er von seiner Dialogpartnerin wissen. Vielleicht bleibt also doch Hoffnung: Die "gewaltige weltanschauliche Revolution", als die der polnische Dichter Andrzej Szczypiorski den Prozess der europäischen Integration beschrieben hat, wird an der EU-Geschlechterpolitik nicht spurlos vorbeigehen.

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