Im April 2002 schreibt Hanser-Verleger Michael Krüger an Marcel Reich-Ranicki: „Geht es Ihnen gut? Mir ging es gar nicht gut, als ich im Fernsehen erleben musste, wie Sie die arme Susan Sontag in den Boden gerammt haben.“ Dessen rigorose Antwort folgt prompt. „Sie nennen die Sontag eine arme Frau. Ich glaube, dass es sich eher um eine arrogante Frau handelt, die seit vielen Jahren Dummheiten redet und schlechte Romane schreibt.“ Die Anekdote findet sich in dem lesenswerten Sammelband Radikales Denken. Zur Aktualität von Susan Sontag und sagt einiges darüber aus, wie Männer über eine Frau denken, die so ziemlich jede Person ihrer Generation beeinflusst hat, die weiblich, queer und intellektuell offen war.
Seine überaus abschätzige Me
2;beraus abschätzige Meinung über Amerikas wichtigste Intellektuelle des 20. Jahrhunderts hatte Deutschlands Literaturpapst dennoch exklusiv. Die männlichen Blicke auf Sontag mögen stets kritisch gewesen sein, aber auch bewundernd. Susan Sontag gilt neben Hannah Arendt und Joan Didion als eine der wichtigsten literarischen, politischen und feministischen Ikonen ihrer Generation. „So klug wie Susan Sontag“ ist in den USA eine feste Redewendung.Die Wirklichkeit analysiertDazu hat – trotz National Book Award für ihren Roman In Amerika – weniger ihr literarisches als vielmehr ihr essayistisches Werk beigetragen. Vor allem ihre Nobilitierung der vermeintlich unintellektuellen Popkultur in Anmerkungen zu „Camp“, ihre Gedanken über Krankheit als Metapher – von vielen während der Pandemie wiederentdeckt – und ihre in Gegen Interpretation gesammelten Kulturkritiken wirken bis heute nach. „Die Wucht ihrer Texte berührt, egal, wie viel zusätzliche Komplexität sich in der Zwischenzeit auch angehäuft haben mag“, schreiben die Herausgeberinnen von Radikales Denken, Anna-Lisa Dieter und Silvia Tiedtke.Am 16. Januar 1933 als Susan Lee Rosenblatt geboren, schärfte Sontag lesend, denkend und schreibend ihren Blick auf die Welt. Ihre Texte haben verändert, wie wir das Leiden anderer betrachten, über Fotografie sprechen oder auf die Herausforderungen unserer Zeit schauen. 2003 erhielt sie den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels. „Seitdem Sontag schreibt, sucht sie in geistigem Wagnis, oft in physischer Gefahr, nach dem Punkt, von dem aus die Wirklichkeit dieser Zeit sich am schärfsten, schmerzlichsten einsehen lässt“, sagte der ungarisch-deutsche Literaturkritiker Ivan Nagel damals in der Frankfurter Paulskirche.Seit ihrem Tod am 28. Dezember 2004 arbeiten sich Kulturschaffende an Sontag ab. Bereits 2007 erschien Daniel Schreibers kritisches Porträt Susan Sontag. Geist und Glamour, in dem er der Essayistin die „Ikonisierung“ der eigenen Marke unterstellt. 2009 legte Sontags Sohn David Rieff in seinem Sterbebuch Tod einer Untröstlichen die Intimität der letzten Tage am Sterbebett beklemmend offen. Anschließend gab Rief zwei die Jahre 1947 bis 1963 und 1964 bis 1980 umfassende Tagebuchbände heraus, die die Entstehung von Sontags radikaler Philosophie aus Liebe, Schmerz und Zweifel nachvollziehbar machen. Sie speisen sich aus den über einhundert Notizheften, die Sontag nach dem Vorbild von Lichtenbergs Sudelbüchern angelegt haben soll. Zum zehnten Todestag präsentierte HBO Nancy D. Kates Doku Regarding Susan Sontag. Anhand von Archivmaterial, Zeitzeugenberichten, Fotografien und Texten blickt dieser filmische Essay auf Leben und Werk der Kulturkritikerin und analysiert die ikonischen Fotografien, mit denen Sontag mal betont leger, dann wieder in ernsthafter Pose als über den Dingen stehende Leuchtfigur in Szene gesetzt wurde.Benjamin Moser schlug aber alle. Für sein voluminöses Buch über „Amerikas letzten großen Literaturstar“ (Sontag. Die Biografie) trug er so viel Material wie noch nie zusammen. In seinem 2020 mit dem Pulitzerpreis ausgezeichneten Psychogramm wühlt er sich durch jedes Detail und arbeitet sich verbissen an der „Königin der Leugnung“ und „Sklavin der Ernsthaftigkeit“ ab. Verbittert erinnert sich auch Sontags ehemalige Assistentin Sigrid Nunez in ihrem Memoir. Sie zeichnet das Bild einer herrischen, zu emotionaler Kälte neigenden Diva. Literaturnobelpreisträger Salman Rushdie beschied Sontag zwei Seiten. „Die gute Susan war brillant, witzig, loyal und einfach großartig, die böse Susan hingegen konnte ein gnadenloses Biest sein.“ Ähnliches vernahm man von ihrer langjährigen Lebensgefährtin, der amerikanischen Starfotografin Annie Leibovitz.Verzicht auf IdentitätsdiskurseInzwischen lichtet sich der biografische Nebel, zunehmend tritt Sontags Werk in den Vordergrund. Dazu hat auch der Erzählungsband Wie wir jetzt leben beigetragen. Die Geschichten (darunter eine über die frühe Begegnung mit Thomas Mann) bilden in ihrer spielerischen Pose das Bindeglied zwischen den Selbstzweifeln der Tagebücher und der Autorität ihrer analytischen Essays.Zu Sontags 90. Geburtstag hat Anna-Lisa Dieter einen kompakten Essay verfasst, in dem sie unter Rückgriff auf zahlreiche Listen schreibt, was es heute Bedeutsames zu Sontag zu sagen gibt. Etwa dass sie bei aller Kompromisslosigkeit, Intensität und Betroffenheit auf die Ich-Perspektive verzichtete, sich als jüdische und queere Frau Identitätsdiskursen verweigerte und freigeistig zwischen Akademie und Kunstszene surfte. Wer eine fundierte Sontag-Essenz sucht, hier ist sie.Sontags Werk schillert bis in die Gegenwart. Ihr Denken hat sich zwischen den Fundamenten klassischer Bildung und den Superlativen der Bewunderung bewegt und dabei einen Ehrgeiz des Schreibens hervorgebracht, der ihre Texte zeitlos und unumstößlich macht.Placeholder infobox-1