Der Tod, vielleicht schon in hundert Jahren abgeschafft, ist heute durchaus nicht überwunden, "du gehst pünktlich gut rasiert zum Arzt und kommst mit Blasenkrebs wieder raus", oder die Liebste, mit dem Fahrrad unterwegs, wird angefahren und ist sofort tot, während die Betten noch warm sind. So hilft es nur, zum Pilgerweg aufzubrechen, zum berühmten Jakobsweg. Auch das wäre eine Lesart von Hermann Kinders "Dreitagewerk" (im schönen Gegensatz zum Decamerone), einer Wanderung in drei Etappen von Konstanz durch die Schweiz in Richtung Santiago de Compostela.
Doch erst einmal schillert der Pilgerweg nur in der Ferne, und Kinder zeigt ausführlich den Ausgangspunkt, nämlich Konstanz und die herrschaftliche Schreckensrolle, die Tod und Gewalt dort früher
dort früher gespielt haben. Ehebrecherinnen mussten das Fleisch ihres ermordeten Liebhabers essen, so sie nicht des Hungers sterben wollten, ältere Frauen wurden von ihren Ehemännern einfach zum Fenster hinausgeworfen, und jetzt, jetzt werfen die Boulespieler ihre Kugeln durch die Sonne; die "fallen deutsch schreienden Türkenkindern auf den Kopf". Dicht, sehr dicht nebeneinander drängt sich Geschichtliches und heutige Geschichte, blutige Ereignisse aus der Vergangenheit und schön Nebensächliches oder tödlich Trauriges aus der Gegenwart. Hauptdarsteller gibt es bei Kinder zunächst keine, dadurch wirkt der Icherzähler wie ein Flaneur, ein gelassener, unbeteiligter Flaneur durch alle Zeiten. Sobald er aber Konstanz zurücklässt, zeichnet sich der Pilgerweg (durch die Schweiz) deutlicher ab, und Muße gibt es auch für die Beobachtung einzelner Personen. Da geht ein Mann den Weg entlang, spuckt Schimpfwörter aus, Sauhund oder so etwas, genauer besehen sind es aber Pflaumen-, Aprikosen-und Pfirsichsteine, die aus seinem Mund fliegen; dieser Mann ist einer der ersten unauffälligen Gestalten, mit denen sich der Pilger (der Icherzähler) von seinem finsteren Furioso ab- und den Wegbegleitern zuwendet. "Die Welt guckt frisch verputzt. Da sitzt der alte Breughel und malt ein himmelhohes Krähengeschrei". Mit dem großen Gemälde wäre schon der Titel umschrieben und der große Frühlingstag, der hohe Aufbruch zum fernen spanischen Ziel. Krähen allerdings wird es bis zum Schluss nicht geben, die geistern nur bei Breughel und im Titel.Kapitel zwei der Wanderung heißt "ein zweiter Tag, herbstlich taumelnd". Das nimmt sich wie eine musikalische Anweisung aus, und man könnte die ganze Pilgergeschichte, die Kinder "Kammerprosa" nennt, auch musikalisch verstehen - das wäre eine weitere Lesart. Der erste Tag, von dem bisher die Rede war, ist "frühlingshaft, mit Wut" zu lesen, der dritte dann "winterlich, con amore". Während die Jahreszeiten zunehmend kälter werden, erwärmen sich die Inhalte, sie werden immer freundlicher und persönlicher. "Man muß die Menschheit lieben, um in das eigentümliche Wesen jedes einzudringen, es darf einem keiner zu gering, keiner zu häßlich sein...", sagt Büchners Lenz, und Büchner scheint mit Hermann Kinder mitzuwandern, nicht nur in der Gestalt des Woyzek, der anfangs beinahe unbemerkt in die Geschichte hineinschaut und zum Schluss - mitsamt seiner Marie - deutlich eine Rolle spielt.Am zweiten herbstlich taumelnden Tag jedenfalls ist die grausige Vergangenheit verschwunden, und es sind heutige Gestalten, die am "Schwabenweg" entlangstraucheln. Sie begegnen einander immer wieder, ihre kleinen Auftritte reihen sich zu Folgegeschichten. Ein Mann zum Beispiel zieht in sieben Folgen mit einer Schaufensterpuppe durch die Gegend, die er mal unsittlich anpackt, mal in einem Bach ertränken will. Das ist eine heitere kleine Studie vom zaghaften Liebhaber, der aus Angst, seine Dame zu verlieren, sich lieber auf eine Leblose einlässt. Eine andere "Serie" erzählt von einem Alten, der fremde und eigene Exkremente sammelt ("... eine Scheune voller Kot unter einem hohen Himmel voller Worte, Pfiffe und Gesang" schwebt ihm vor). In der Schweiz, wo Hundekot selbst noch von der Wiese aufgehoben werden muss, ist so eine Figur beinahe glaubwürdig. Die ewig schmerzenden Füße des Icherzählers und seine ewige Suche nach Hotelbetten bilden eine weitere Sequenz. Hinzu kommt noch eine Reihe von Schreckensträume der beteiligten Personen, und schließlich finden sich eines nachts alle an einem Ort zusammen, in einem wohl nicht realen Schlafsaal - damit verbinden sich konkrete Erzählpartikel wunderbar unangestrengt mit abstrakten und offensichtlich erfundenen Passagen.Auch mit der Sprache spielt Hermann Kinder entsprechend, schwankt schön zwischen der gehobenen Sprache, den leise eingefügten Zitaten ("deren Uhrschlag ich aber hörte nahebei", ist das ein Zitat?) und der Alltagssprache, hinzu kommt der typische Kinder-Witz, wenn er "hagelleer in den sternvollen" Himmel schaut.Wie ein Herbstblatt wirbelt der Pilger durch die Landschaft, verliert die Wege wiederholt aus den Augen, muss immer wieder zu schon bekannten Orten zurückkehren, damit geht es hier um eine windige Geschichte, und zu diesem Wirbeln gehört auch die Bäckerstochter aus Lommis. Manchmal gehört sie nicht nach Lommis sondern zu einem anderen Dorf, jedenfalls hat die Bäckerstochter weiche Fingerkuppen, alle möchten sie heiraten, und immer wirkt sie warm wie ein Ofen.So kommt es zum dritten Tag, die Gegend ist verschneit, unser Hauptpilger kommt kaum noch voran, doch das ist recht so. "Die Kunst der Landschaftsmaler ist, dass sie die Zeit anhalten", sagt Kinder, und auch ihm gelingt das sehr gut.Wie ein Nichtortskundiger diese Wanderung wahrnimmt, ist schwer zu sagen. Ortsnamen wie Märstetten oder Amlikon werden ihm wenig sagen, so dass er auch das vom Wind umhergetriebene Herbstblatt nicht ganz deutlich erkennen wird. Ich allerdings sitze hier in der Nähe und fühle mich berührt oder umschrieben, und diese Bemerkung wird zu diesem Thema nicht mein letztes Wort sein.Hermann Kinder: Himmelhohes Krähengeschrei", Kammerprosa, 2000, Libelle-Verlag, Lengwil am Bodensee 2000, 136 S., 29,- DM
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