UN-Weltkindergipfel Krieg und Hunger kennen unsere Kinder zumeist nur durch das Fernsehen. Einsamkeit, Leistungsdruck und die Angst vor dem sozialen Abstieg erleben viele täglich hautnah
Zum ersten Weltgipfel für Kinder traf sich 1990 die UN-Generalversammlung. Vertreter aus 150 Staaten einigten sich auf 27 Entwicklungsziele für das Jahr 2000. Wenn nun im Mai eine solche Weltkonferenz erneut zusammentrifft - sie war im September vergangenen Jahres wegen der Terroranschläge in New York und Washington verschoben wurden - steht schon fest, dass viele der damals gegebenen Versprechen zu einer kinderfreundlicheren Welt nicht eingelöst wurden. Heute leben auf unserem Globus mehr Kinder in Armut als noch vor zehn Jahren, mehr Kinder kämpfen mit den Folgen von Aids, sind selbst infiziert oder haben durch die Krankheit ihre Eltern verloren. In vielen Staaten sind die Rüstungsausgaben wesentlich höher als die für Bildung und Gesundheit. Gleic
t. Gleichzeitig ist die Entwicklungshilfe der wohlhabenden Länder teilweise erheblich zurückgefahren worden. Wir leben in einem wohlhabenden Land. Sind wir vielleicht auf andere Weise arm? In Deutschland gibt es 17 Millionen Kinder, davon sind fünf Millionen Einzelkinder. Deren Zahl steigt weiter, ist aber nicht der Grund für die zunehmende Einsamkeit von Heranwachsenden. Das Spielzeug vermehrt sich, das Taschengeld steigt. Die Summen sind der Wirtschaft bekannt, ebenso die Höhe der für Kinder angelegten Sparguthaben. Schon in der zweiten oder dritten Grundschulklasse unterhalten sich Kinder über das fürs spätere Studium bereits angesparte Geld. Wer feststellt, dass seine Eltern nicht sparen, gerät in Sorge. Es gibt Fernsehprogramme im Überfluss, ab sechs Uhr morgens können Kinder vor der Mattscheibe abgestellt werden. In vielen Familien weckt in der Frühe kein Wecker oder Radio mehr, sondern der Fernsehapparat. Wenn dessen Sendungen beginnen, beginnt das Leben. Dazu die Werbung, die Kinder mit Kommandos bedrängt: "Das musst du haben!", "Das darfst du dir nicht entgehen lassen!", "Schnapp sie dir!" Kinder werden von Trend zu Trend geschubst, geschoben, gedrängt - und oft sind es sozial Schwache, die ihren Kindern unter großen finanziellen Opfern überteuerte Markenkleidung kaufen, um ihre Armut zu verbergen. Allein wegen dieser an Kinder gerichteten Werbung sollten manche Firmen auf Nötigung verklagt werden. Weiß man dann noch, dass in diesem perfiden System der Konzerne die Produkte oft von Kindern anderswo auf der Welt für einen minimalen Lohn zusammengesteckt, genäht oder geklebt werden - ob das die Figuren im Happy Meal, Fußbälle oder Schuhe sind - kann einem nur schlecht werden. Während man hierzulande Kinder als Markt entdeckt hat, werden sie andernorts als billige Arbeitskräfte genutzt. Es ist kurzsichtig, es ist sogar eine Rücksichtslosigkeit der Politik, da nicht einzuschreiten. Fernsehen also, Werbung, Produkte, dazu Computer, Internet, Spielkonsolen, Gameboys, Handys mit Spielen für die Jüngsten. Die Kinder sind von Geräten umgeben, retardieren zu bewegungsunfähigen Geschöpfen mit Sehnenentzündungen vom Tastendrücken, lauffaul, fehlernährt. Kinder sollen kompetent mit dem Computer umgehen lernen. Aber was nützt Verständnis für Maschinen, wenn dabei die musische Bildung abhanden kommt, die eine selbstbewusste Persönlichkeit braucht? Studien belegen eine sinkende Sprachkompetenz von Kindern, manche drücken sich bei der Einschulung noch wie Vierjährige aus. Und das, weil schlicht zu wenig mit ihnen gesprochen wird. Zu Hause laufen die Geräte, Eltern werden zum Mobiliar, arbeiten Schicht, sind müde oder haben andere Interessen. Noch gibt es alternative Angebote. Aber wie oft sind es gerade diese, die von Einsparungen der Kommunen in ihrer Existenz bedroht sind? Und wie sollen Kinder und Jugendliche auf dem "flachen Land" nachmittags zum Musik- oder Sportunterricht kommen, wenn die "unrentable" Buslinie eingestellt wurde? Kinder aber brauchen Menschen. Menschen, die ihnen gegenüber stehen, die mit ihnen sprechen, die zuhören, Beispiel sind. Lebende Menschen, keine Comicfiguren - im Kindertheater, in der Schule, zu Hause, auf dem Sportplatz, in der Bibliothek. Fehlen Erwachsene, die sich Zeit nehmen, die Verständnis aufbringen, vereinsamen Kinder. Eine Binsenweisheit? Ja - und ein ungelöstes Problem in unserer "wohlhabenden" Gesellschaft, die Kindern kaum Platz lässt und für Eltern nur selten kinderfreundliche Arbeitsplätze bereit stellen kann oder will. Familienbande zerreißen - immer mehr gestresste Eltern fahren lieber allein in den Urlaub, ohne ihre Kinder, denen die Clique zum besseren Zuhause wird. Weil Eltern und Lehrer dem wachsenden Tempo standhalten und mitrennen wollen, müssen Kinder funktionieren. In der technisierten Welt kann man alles reparieren, jede Störung beseitigen, warum soll das bei Kindern anders sein? Die Krankheit ADHS, eine Konzentrationsstörung, die auf einer Fehlfunktion im Gehirn beruht, wird plötzlich vermehrt diagnostiziert: da ist also ein Fehler, der behoben, der medikamentös behandelt werden kann. Immer mehr Kinder werden auf diese Weise ruhig gestellt. Wohlhabend? Der jüngste Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung stellt Arbeitslosigkeit als "Hauptrisikofaktor für Armut" fest. Doch der Abstieg in die Armut hat viele Gründe: Niedrigeinkommen, problematisches Konsum- und Marktverhalten (sic!) und einschneidende Lebensereignisse wie Trennung, Scheidung, Schwangerschaft oder die Geburt eines Kindes. Besonders in den Mittelschichten grassiert die Angst vor dem sozialen Absturz. Dort üben Eltern den stärksten Druck auf ihre Kinder aus, in der Schule gute Leistungen zu bringen, diszipliniert und funktionstüchtig zu sein. Nicht wie in früheren Generationen, damit die Kinder es "einmal besser haben", sondern aus berechtigter Sorge, es könnte ihnen einmal schlechter gehen. Diese Stimmungslage setzt Kinder unter Druck, prägt ihr Aufwachsen. Sie müssen sich den Bedürfnissen der Erwachsenen - der Wirtschaftswelt, der Schule - anpassen. Und dabei unabhängige, selbstbewusste Persönlichkeiten werden? Woran werden unsere Kinder uns einst messen? Am Wohlstand gesunkener Staatsverschuldung oder am Zustand unserer Bildungs-, Gesundheits- und kulturellen Einrichtungen? Wie wollen wir ihre und unsere Zukunft unabhängig von der Zukunft unseres Bankkontos gestalten? Welche Vorbilder - was für eine Welt wollen wir für unsere Kinder? Die Autorin lebt als Schriftstellerin in Berlin, sie schreibt Theaterstücke und Romane für Kinder und Erwachsene.
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