Chinas Boomtown Die Lebensgeschichte des Herrn Sun aus der nordchinesischen Öl-Boomtown Daqing erinnert an eine Achterbahnfahrt. Die momentane Wirtschaftskrise ist nicht seine erste
Sun Jianping thront an der gedeckten Tafel und blickt auf eine Ölpumpe, die draußen vor dem Haus rumort. Das aufgeknöpfte Hemd verleiht dem gestandenen Mann jugendlichen Charme, sein erwachsener Sohn und vier Arbeiter knieen auf Hockern um das Sperrholzrund, seine Frau sitzt abseits an der Tür. Bier und Schnaps fließen, es gibt Hundefleisch aus der Nachbarschaft und keinen Zweifel, wie die Rollen bei Tisch verteilt sind: Herr Sun überragt die Gesellschaft. Er hockt auf dem Kang, dem traditionellen Wohn- und Schlafofen, der in Landhäusern des Nordostens ganz selten fehlt. Herr Sun ist ein stolzer Mann. Die Stadt Daqing, in der er lebt, hat viele aufrechte Söhne hervorgebracht, und das „schwarze Gold“ ihren Bewohnern nicht geschadet.
Daqing,
Daqing, in Chinas Nordost-Provinz Heilongjiang, zählt heute gut eine Million Einwohner. Doch sucht, wer zu ihnen unterwegs ist, das Urbane oft vergebens. Die zersiedelte Stadt ist die Summe ihrer Dörfer. Dazwischen liegen weitläufige Brachen, auf denen eine Förderpumpe neben der anderen brummt, Anlagen in Reih und Glied, selbst zwischen Plattenbauten ragen sie inzwischen auf.Großes Fest, großer Sprung Mit dem Bau der Eisenbahntrasse vor über 100 Jahren entstanden in der Songliao-Ebene die ersten Siedlungen, allerdings ahnten die Menschen kaum etwas von einem 6.000 Quadratkilometer weiten Ölteppich nicht sehr tief unter ihnen. Eine der mächtigsten Lagerstätten weltweit.Daqing ("Großes Fest"), 1959 gegründet, sollte dem zehnjährigen Jubiläum der Volksrepublik gewidmet sein, der es an Rohstoffen fehlte, hatte doch die Sowjetunion seinerzeit ihre Öllieferungen gedrosselt. Es war die Zeit des „Großen Sprungs nach vorn“, bei dem die Bauern besser Stahl kochen als Reis anbauen sollten, so dass bald eine Hungersnot grassierte. Das Zentralkomitee der KP Chinas aber ließ sich nicht beirren und beschloss 1960 den „Großen Kampf um Öl“. 100.000 Arbeiter und Soldaten strömten in die Songliao-Ebene und stampften im Akkord erste Raffinerien aus dem Boden.Ab 1974 floss schwarzes Gold aus Daqing bis zum Meer in die Industriestadt Qinghuangdao, später bis nach Peking. Die Eltern von Sun Jianping, aufgewachsen in der Provinz Liaoning, gehörten zur Aufbau-Generation und konnten der Familie nicht mehr hinterlassen als ein schlichtes Haus mit zwei Zimmern und Küche in einem nebligen Vorort, wo man losen Sand unter den Füßen spürt und doch wie auf einem Stein geht. Vom Esstisch der Suns geht der Blick zum Hof, dort riecht man das Plumpsklo, an Ziegelmauern türmen sich Kanister und morsches Holz, dahinter fließt das Öl aus der Pumpe wie überall. Ringsherum herrscht die Ödnis der Vorstadt mit Kachelfassaden, geduckten Häusern und einem öffentlichen Bad: Einmal Duschen für fünf Yuan, umgerechnet sind das 50 Cent.Daqing war nie Provinz und wurde nie Metropole, die ausstellt, was sie leistet und sich leisten kann. Mit der pastoralen Landschaft wollten die Planer einen Moloch verhindern, getreu der Devise des Premiers Zhou Enlai aus den frühen Jahren der Volksrepublik: „Stadt und Dorf verbinden, damit sowohl die Produktion und als auch die Menschen davon profitieren!“ Mao Zedong gab 1964 für Chinas Industrie gar die Parole aus: „Lernen von Daqing“ und pries damit ein sozial durchaus sinnvolles Modell, das trotz aller Symbolik nur zu einer mäßigen Ausstrahlung für das Reich der Mitte kam.Herr Sun Jianping, Jahrgang 1962, erlebte den Aufstieg der Musterstadt als Kind. Die sechziger Jahre brachten unruhige Zeiten, die Helden der ersten Stunde waren plötzlich Feinde. Den Vorarbeiter Wang Jinxi, der ganz allein eine leckgeschlagene Bohrstelle mit Zement versiegelt hatte, denunzierten die „Rote Garden“ als „politischen Dieb Nr.1“. So gehörte der zu Privilegien gekommene Mann mit der Kulturrevolution plötzlich nicht mehr dazu. Heute erinnert ein Denkmal an den längst rehabilitierten „Helden des Aufbaus“.Kein Mann der KonjunktiveDas kleine Wirtschaftswunder bei den Suns begann mit der Zeitenwende von 1976, nach Maos Tod. Dank der ökonomischen Reformen Deng Xiaopings ging es bergauf. Bereits 1984, kurz nach der Hochzeit, besaßen die Suns ein Fernsehgerät. „Die halbe Nachbarschaft kam damals zu uns“, erinnert sich Herr Sun, der seinerseits einen Textilhandel aufbaute und sich die Ware aus Guangzhou im Süden kommen ließ. „In dieser Zeit haben wir ab und zu soviel an einem Tag verdient, wie die meisten Menschen hier in einem Monat nicht. Wir aßen Obst und Fleisch, soviel wir wollten.“Doch die Südfrüchte und Hühnerfüße verschwanden irgendwann wieder vom Familientisch der Suns. Der Aufmarsch des Kapitalismus sorgte nicht nur für volle Bäuche, sondern Ende der neunziger Jahre auch für den großen Kater. Als Petro China, eine Tochtergesellschaft der China National Petroleum Corporation, an die Börse ging, kam es zu Massenentlassungen. Zehntausende „Helden der Arbeit“ von einst verloren ihre Anstellung. Andere Regionen im auch „Rostgürtel“ genannten Nordosten traf es noch schlimmer, ob es sich nun um das Kohlerevier von Fushun oder die Stahlwerke von Anshan handelte.Auch für die Suns ging es abwärts, obschon dies nur mittelbar mit dem Abschwung in Daqing und den klammen Budgets seiner Bewohner zu tun hatte. Aus Angst, im Textilgeschäft kein Geld mehr zu verdienen, verkaufte Sun die Firma unter Wert: „Hätten wir mehr Geduld aufgebracht, wären wir jetzt vielleicht um 100.000 Yuan reicher“, lacht er. Aber er sei eben nie ein Mann der Konjunktive, sondern stets ein Mann der Tat gewesen. Als zog die Familie in eine Stadt an der nordkoreanischen Grenze, um den Verkaufserlös aus dem Textilgeschäft in eine Schnapsbrennerei zu investieren – Kunden gab es genug. 1999 brannte die Destillerie ab. „Unsere Zukunft zerfiel zu Asche, keine Flasche war mehr übrig. Wir konnten unserem Sohn nicht einmal mehr das Studium finanzieren.“ Herr Sun lacht bitter. Schnell wechselt er das Thema, schneidet für jeden Gast am Tisch ein großes Stück von der Wassermelone ab.So kehrten Herr Sun und seine Frau im Jahr 2000 nach Daqing zurück, fingen ganz von vorn an und verdingten sich als Tagelöhner, bis eine feste Anstellung möglich war. „Wir haben von einem Tag auf den anderen gelebt.“ Nach seiner Karriere als Textilhändler, Schnapsbrenner und Handlanger begann für Herrn Sun 2004 ein neues Kapitel in seiner wechselvollen Unternehmerkarriere: Er gründete eine Baufirma, die Rohrleitungen in Industrieanlagen installiert. An Aufträgen mangelt es seither nicht. In Daqing boomt die Wirtschaft wieder, viele neue Gewerbe- und Industriegebäude entstehen.Trotz des Rückgangs in der Ölförderung geht es mit Daqing nicht bergab. Das statistische Pro-Kopf-Bruttoinlandsprodukt liegt über dem der Küstenstädte. Es gibt mehrere Hochschulen, prominent ist das Petrochemische Institut. Nicht zuletzt ist die Renaissance der Stadt dem Aufbau eines Hightech-Sektors geschuldet. Daqing hat den ersten Hochtechnologiepark, der auf die Entwicklung neuer Baumaterialien oder Düngemittel spezialisiert ist. Auch Sun profitiert indirekt durch Aufträge beim Bau neuer Industriehallen.Doch der Wohlstand der Stadt bleibt ungleich verteilt. Hinter dem Bahnhof steht eine Gruppe von Männern, die auf Pappschildern ihre Arbeitskraft anbieten. Seit die weltweite Rezession auch China nicht verschont, werden es von Tag zu Tag mehr.Anderenorts entstehen große Gebäude, die Stadtverwaltung und Privatinvestoren gehören. Davor parken Lexus-Limousinen mit getönten Scheiben und weißen Nummernschildern, denen der Polizei. „Weil in Daqing nach wie vor das meiste Geld in der Provinz zirkuliert, tummeln sich hier eben die meisten Kriminellen.“ Das Wort Mafia meidet Herr Sun. Er kann über den vulgär zur Schau gestellten Reichtum nur schmunzeln. Um sein Dreirad-Auto im Hof habe ihn noch nie jemand beneidet.Inzwischen beschäftigt er in seiner Baufirma zwei Dutzend Mitarbeiter, Frauen wie Männer. „Vor fünf Jahren war ich ein kleiner Arbeiter, heute bin ich wieder ein kleiner Chef“, kokettiert Sun mit seiner alten, neuen Rolle. Der Arm einer Förderstelle schwankt vor dem Fenster. Den neuen bescheidenen Wohlstand sieht Sun vorsichtiger als früher. „Obwohl Geld in China mehr alles andere regiert, stellen wir Materielles nicht mehr an die erste Stelle.“ Es ist einer der wenigen beinahe philosophischen Gedanken, zu denen er sich an diesem Abend hinreißen lässt. Herr Sun, der Klempner, Schnapsbrenner und Textilverkäufer weiß, wie schnell ein Unternehmer in China fallen kann.
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