Als das Römische Imperium zerfiel und zum Zankapfel von Eroberern aus Nord und Süd, aus Ost und West wurde, bildete sich "von unten" eine kommunale Widerstandsbewegung: Die großen und mittleren, ja auch die kleinen Städte bauten ihre Mauern, zogen sich auf sich selbst zurück, suchten sich wechselnde Schutzherren oder schützten sich selbst, organisierten sich als Republiken oder mittlere Territorialstaaten, konkurrierten miteinander, bekämpften oder verbündeten sich - und entwickelten dabei eine bunte Vielfalt lokaler Identitäten, die im übrigen Europa nicht ihresgleichen hat. Diese Vielfalt hat sowohl den Einheitsstaat als auch die Nivellierung der modernen Fernsehkultur überlebt - und feiert in den letzten zehn bis fünfzehn Jahren eine erstaunliche, sichtbare Wiederauferstehung in der Form kommunaler Festivals, meist großzügig finanziert von der Region und den örtlichen Sparkassen. Es dürfte kein Land in Europa geben, das von Juni bis Oktober eine derartige Festival-Fülle anbietet wie die italienischen Kleinstädte. Wer sich darüber bei Google-Italien informieren will - le vie del festival - dem wird schnell flimmrig vor den Augen, so lang und unendlich ist die Liste (über 130 soll es geben): Nirgends ist das zentral gespeichert und abrufbar, denn jede Kommune macht ihre eigene Sache, aktiviert ihre eigenen Bürger und die ihres eigenen Umlandes. Und siehe: sie alle kommen. Es ist eines der erstaunlichen Phänomene dieser Jahre, welches breite Echo die Festivals gefunden haben - trotz oder vielleicht gerade wegen der Verflachungs- und Verdummungskultur Berlusconis. Zwischen 10.- und 150.000 Menschen kommen da zusammen und kriegen Programme von hohem Niveau in schönster Umgebung geboten - und nicht zuletzt: gastronomisch bestens eingebettet.
Es gibt für den Touristen (auch wenn er nur Küchenitalienisch spricht) eigentlich nichts Beglückenderes, als in solch ein Festival hineinzugeraten. Zwischen drei und zehn Tagen lang verwandelt das Festival die malerischen Altstadtzentren mit ihren Cafés und Trattorien, ihren Piazzen und Cortilen, ihren historischen Theatern und Klöstern, ihren fackelbeleuchteten engen Straßen und restaurierten Festungen für einige magische Tage in eine große Bühne und viele kleine Schauplätze - das ausgiebige und gute Essen und Trinken, Espresso und Cappuccino inklusive. Man darf und muss staunen über die enorme thematische und inhaltliche Kreativität dieser Festivals. Bekannt sind natürlich die Großen: Das internationale Star-Musikfestival von Stresa (August/September - mit Michelin-Kochkurs), das von Gian Carlo Menotti gegründete "Festival dei Due Mondi" in Spoleto (Juni/Juli). Cortona (10. bis 14. August) hat sich Anna Netrebko eingekauft und bietet im Beiprogramm geführte Ausflüge nach Siena und Montepulciano an, wo der von Hans Werner Henze gegründete "Cantiere di Montepulciano" zuhause ist; dann das Opernfestival in der Arena von Verona, von den Filmfestivals Venedigs, Roms, Mailands oder Turins ganz zu schweigen. Aber das ist überwiegend konventionell, Geschäft, Betrieb, meist (Ausnahme: Spoleto) ohne künstlerische oder gar politische Ambitionen. Interessant und originell wird es bei Festivals wie dem des "restaurierten Films" (Narni) oder des Stummfilms (Pordenone/Veneto, 6. bis 13. Oktober); verschiedene kleine Gemeinden aus der Provinz Modena (Pievepelago, Pavullo, Lama Mocomo) haben sich zusammengetan und machen Musik, Folk und Jazz, auf "den Straßen des Klanges", Le vie del suono (Anfang August). Das kleine Städtchen Longiano (Cesena) lockt zu einem einzigartigen Festival, nämlich dem für Drehorgeln, mit Konzerten, Marionetten und Straßenumzügen (Antico Organetto, 8./9. September), Orvieto hat aus aller Welt, von Spanien bis Iran, von Argentinien bis Deutschland Straßenkünstler "von Nachmittag bis Mitternacht" eingeladen (2. bis 4. September) - und so geht es weiter. Zu entdecken ist bei Gelegenheit eines intimen, aber niveauvollen internationalen Kammermusikfestivals (Juni/Juli) das Abruzzen-Städtchen Pescocostanzo, ein Juwel, mit der bis heute wirksamen ältesten urbanistischen Stadtbauplanung der Welt (16. Jahrhundert) und einer einmaligen Goldschmiedetradition. Das internationale Tanzfestival von Rovereto (Trentino) "Oriente - Occidente" mit Gruppen und Tänzern aus Afrika und Lateinamerika begeht bereits seinen 27. Jahrestag (30. August bis 9. September), und natürlich darf auch so etwas wie das Festival des Parmaschinkens (Langhirano, erste Septemberhälfte) nicht fehlen bis hin zu Vergnüglichem wie dem Schnurrbart-Festival von Montumesola (Taranto). Wie gesagt: Man kann nur staunen.
Spannend und aufregend aber sind die intellektuell anspruchsvollen Festivals, die vor allem in den letzten Jahren hinzugekommen sind: Die sonst wenig bekannte, aber kennenswerte Stadt Pordenone im Veneto "liest": "Pordenonelegge" (21. bis 23. September), und zwar nicht nur italienische Literatur und Dichtung, sondern auch Philosophie und Essayistik wie die von Zygmunt Baumann oder Ilija Trojanow. Gut 100.000 Menschen kamen im letzten Jahr. Ausschließlich zur Philosophie strömen die Massen nach Modena ebenso wie zum Literaturfestival von Mantova im September, das fast 200.000 Menschen anzieht. Das jüngste - und relativ vielleicht erfolgreichste - erlebt dieses Jahr (31. August bis 2. September) seine 4. Auflage und widmet sich dem "Geist": "Festival della Mente" im besonders malerischen Sarzana (Ligurien). Was kann man sich darunter vorstellen? Wie gesagt: Erstaunliches! Da sprachen bisher Neurobiologen über den letzen Stand der Gehirnforschung - verständlich und doch nicht ohne Anspruch -, Musiker über Inventionen, ein Schriftsteller mit einem Regisseur über Kreativität bei der Entwicklung eines Bühnenstückes, bildende Künstler über Form und Inhalt, ein Kriminologe über die Rolle der Wissenschaft bei der Verbrechensaufklärung, Werbepsychologen über die geheimen Verführungstechniken zum Konsum, eine Biographin von Virginia Wolf über psychologische Empathie - und so vieles andere mehr; die Stadt mit ihren knapp 30.000 Einwohnern wird vom Publikum geradezu überrannt, das inzwischen von weit her kommt und sich geduldig und gespannt Vorträge und Diskussionen anhört. Das diesjährige Programm ist so reichhaltig, dass sich schon ein Internet-Besuch lohnt. Es scheint, als habe gerade die seichte Unterhaltungskultur des Berlusconi-Fernsehens das Bedürfnis nach intellektueller Anstrengung und Nahrung geweckt.
Schließlich sei noch ein besonders interessantes und ungewöhnliches Festival erwähnt, eines der älteren, das man Ende Juli nächsten Jahres wieder besuchen kann. Am Schnittpunkt zwischen Österreich, Slowenien und Italien gelegen, eine Gründung der Langobarden, was in der 20.000 Einwohner-Stadt bis heute architektonisch und atmosphärisch zu spüren ist: Cividale (Friaul) gründete gleich nach der Wende 1990 mit der Perspektive "Mitteleuropa" sein "Mittelfest" und hat seitdem jedes Jahr Musik und Theater, Vorträge und Diskussionen, Tanz, Oper und künstlerische Arbeiten präsentiert, immer mit einem starken Anteil deutscher, österreichischer und slowenischer beziehungsweise mitteleuropäischer Protagonisten und Besucher; der soeben verstorbene George Tabori gab dort als einer der ersten ein Gastspiel mit seiner Truppe. In diesem Jahr waren etwa eine brillant aktualisierte Version von Goldonis Diener zweier Herren aus Belgrad auf serbokroatisch zu sehen, ein zeitgeschichtliches Stück über die italienische Minderheit in Fiume (Rijeka) 1945/46 vom dortigen italienischen Diaspora-Theater, rumänische Sinti-Roma-Musik, eine Wiener Rockgruppe mit sehr originellen Mozart-Adaptionen, zu schweigen nicht vom eröffnenden Borodin-Quartett - zehn Tage mit je drei bis vier Präsentationen, über 20.000 Besucher wurden gezählt. Vor allem aber stand das ganze Festival unter dem Thema der Menschenrechte: Die Straßen bestückt mit Text-Tafeln aus der UN-Menschenrechtserklärung von 1948, dazu acht Einzelvorträge und Dialoge (darunter einer vom Berichterstatter über Das Recht, Rechte zu haben), zu denen trotz der Hitze jeweils über 400 Personen kamen und zwei Stunden konzentriert zuhörten. Zum Abschluss des Festivals wurden mit den UN-Artikeln signierte Megaphone auf der Piazza versteigert, die zuvor in Schaufenstern und öffentlichen Orten symbolisch auf die Dringlichkeit, die Menschenrechte laut und deutlich einzuklagen, hingewiesen hatten. Kann man von einem Festival mehr verlangen?
Kurzum: Die Italiener sind besser als der Ruf, den ihre politische Klasse repräsentiert. Diese Festivals dienen als ermutigende Zeichen von Vitalität, Kreativität und bürgerlich-demokratischem Engagement. Und wer will, kann auf die unangestrengteste Weise davon profitieren: im Urlaub.
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