Schockstarre

Gastkommentar Mit der Weltrezession schrumpft die Entwicklungshilfe akut

Die Weltfinanzkrise hat die so genannten Weltführer dazu gebracht, mehr als zwei Billionen Euro in ihre Banken zu pumpen. Sehr seltsam, dass die selben Leute sich nun außerstande sehen, ihre Versprechen einzuhalten, in diesem Jahr zugesagte 100 Milliarden Euro für Entwicklungshilfe aufzubringen. Bei einem genaueren Blick auf die entsprechenden Zahlen lässt sich feststellen, dass die USA bisher nahezu eine Billion Dollar an Finanzgarantien mobilisiert haben, während Großbritannien einen Rettungsschirm im Wert von 400 Milliarden Pfund aufspannte. Man vergleiche diesen Aufwand mit den 700 Milliarden Euro, die es uns nach Schätzungen kosten würde, in zwei Jahren die Armut weltweit auszumerzen.

Viele der ärmsten Länder sind extrem abhängig von der Offiziellen Entwicklungszusammenarbeit (ODA), deren Mittel 2009 wegen der Finanzkrise um mindestens 30 Prozent schwinden werden. Noch 2007 konnte die ODA über 117,5 Milliarden Dollar verfügen, von denen die Hälfte aus der EU kam, die sich als größter Entwicklungshelfer weltweit zu erkennen gab. Obwohl sie diese Rolle des Anführers gern übernahm, konnte die Union der 27 im Vorjahr diesem Status schon nicht mehr vollauf gerecht werden.

Und dies in einem Moment, da die Entwicklungsländer verzweifelt gegen verteuerte Nahrungsmittel ankämpften. Die Hungeraufstände in Haiti, in der Elfenbeinküste und in Kamerun waren ein beredtes Zeugnis dafür, wie extreme Armut zu Verzweiflung und Gewalt führt. Schließlich war die Verteilung von Finanzressourcen niemals zuvor so ungleich wie 2008: Zehn Prozent der globalen Bevölkerung verfügten über 80 Prozent der Finanzmittel, während der ärmeren Hälfte der Menschheit gerade einmal zwei Prozent zukamen.

Die Wirtschaftsrezession hat zu Bewusstsein gebracht, unsere Finanzarchitektur ist nicht nur extrem fragil ist, sondern kaum noch auf der Höhe der Zeit. Die jetzigen Aufrufe zu einer Reform des IWF waren überfällig. Die Stimmrechte dort könnten paradoxer nicht verteilt sein. Nur zur Veranschaulichung: Belgien, Luxemburg und die Niederlande besitzen mehr Stimmen als Brasilien, China und Indien. Das muss sich unbedingt ändern. Ich bin der festen Überzeugung, dass allein die Afrikanische Union eine adäquate Vertretung bekommen muss, um die Interessen ihres Kontinents zu vertreten. Obwohl die Wirtschaftskrise in den reichsten Ländern begann, lasten ihre Folgen schon jetzt vorrangig auf den Entwicklungsländern, nicht allein wegen einer schwindsüchtigen Entwicklungshilfe. Die Geldüberweisungen von Arbeitsmigranten in Westeuropa an die Familien in Simbabwe, Somalia, Angola oder Ghana sind oft die einzige Lebensader für Millionen von Familien. Wird die unterbrochen, kommt das einer Katastrophe gleich. Um so mehr sollte über neue Quellen der Entwicklungsfinanzierung nachgedacht werden.

Nur ein Beispiel: Die Zeit wäre reif für die schon lang diskutierte Tobin-Steuer - eine Abgabe, wie sie bei jeder Währungstransaktion erhoben werden sollte, um zusätzliche Geldquellen für dringende Bedürfnisse, nicht zuletzt der Dritten Welt, zu erschließen.

Die Finanzkrise war ein Schock für die Weltwirtschaft - sie könnte aber auch zum Funken für zündende Ideen in der Entwicklungspolitik werden. Bei all den Schäden, die jetzt behoben werden müssen, eröffnet sich eine einmalige Möglichkeit: Man könnte dazu übergehen, ein System zu begründen, das den Entwicklungsländer mehr nützt als das vorhandene.

Louis Michel ist EU Kommissar für Entwicklung und Humanitäre Hilfe

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