Die Bilder dieses Spezials sind Arbeiten des Streetfotografen Siegfried Hansen
Foto: Siegfried Hansen
Nagelhäuser, so nennt man in China dem Abriss geweihte, solitär stehende alte Häuser, die schon von hohen Neubauten umzingelt sind. Ihre Bewohner aber weigern sich erbittert zu weichen. Und die Hutongs, Pekings flache, nach außen verschlossene, mehrgliedrige Wohnhöfe, wurden zum Synonym für das Wort Gasse. Schmal sind sie, alle 50 Meter haben erste Modernisierungsschübe ein Toilettenhäuschen eingerichtet, es herrscht ein wuseliges Leben auf engem Raum: Markt, Werkstatt, eine kleinteilige Dienstleistungskette mit scharf markierten Geruchsgrenzen zwischen Garküchen, Manufaktur oder dem Klo. Generell gelten diese Nachbarschaften den Bewohnern als Teil der Privatsphäre. Deshalb sitzen sie in Schlafanzügen herum, schlurfen im Morgenmantel z
l zum Lädchen, hocken mit der Zeitung am Eck.Wenn jetzt Peter Bialobrzeskis Band Nail Houses erscheint, dann sind diese Viertel schon wieder mehr Geschichte als Gegenwart: In kaum einer Stadt reißt Chinas postindustrielle Moderne so viel ab, verschwinden so viele Nagelhäuser und Gassen wie in Shanghai. Peter Bialobrzeski nähert sich diesen Orten mit dem ähnlichem Gestus, mit dem er vor fünf Jahren die ironisch „Case Study Homes“ genannten Buden an den Rändern Manilas abbildete: mit nüchternem, ernsthaften Blick, ohne die heftig geflickten Gebäude als etwas anderes wahrzunehmen denn als Heimstatt. Lange Belichtungszeiten machen aus Menschen flüchtige Gestalten.Das korrespondiert mit dem Charakter der Häuser, es sind letzte Augenblicke vor dem Verschwinden. Die Referenz an die „Case Study Houses“, Fallstudienhäuser (ein in Los Angeles nach dem Zweiten Weltkrieg ausgelobter Architekturwettbewerb zu modernen und in Serie fertigbaren Häusern für die heimkehrenden Kriegsteilnehmer), ist interessant: Es blieben Einzelstücke, die heute als Ikonen des Minimalismus für Millionenbeträge den Besitzer wechseln. Der Schwarz-Weiß-Ikonograf Julius Shulmann porträtierte sie in der Abenddämmerung. Die Viertel, die Bialobrzeski durchstreifte, rückt er nüchtern unter einen konturlosen Himmel der Becher-Schule. Ihr Seriencharakter resultiert aus blanker Not.Verbaute RegenschirmeGemeinsam mit dem Band Informal Arrangements (2010) – trockene Innenaufnahmen aus kargen Behausungen eines südafrikanischen Townships – hat Bialobrzeski seine Trilogie Habitat genannt. Es sind Dokumente einer Reise durch die Wohnverhältnisse an den sozialen Rändern. Das sind improvisierte Miniaturen aus Überlebenskampf, der auch mal einen Regenschirm übers Eck verbaut. Werbeschilder werden als recycelte Wandverkleidung zweckentfremdet. Aus dem immer ähnlich gestapelten Kochgeschirr spricht Wille zur Ordnung. Wer den jüngst erschienenen UN-Bericht World Urbanisation Prospects, The 2014 Revision hinzunimmt, kann vermuten, dass ein Ende dieser Viertel nicht in Sicht ist: Bis 2050 werden rund 2,5 Milliarden Menschen mehr in Städten wohnen, zu 90 Prozent findet das Bevölkerungswachstum in Afrika und Asien statt. Bis 2030 benötigen diese Städte allein eine Milliarde Wohneinheiten – günstig und rasch.Ob sich die herrschende Politik darum kümmert, zweifelt Andy Merrifield in einer Essaysammlung mit dem Titel The New Urban Question an. Merrifield, ein in der Wolle gefärbter Marxist und Henri-Lefebvre-Schüler, sieht die Prozesse der Vertreibung, den Druck zur Randbebauung aus Müll als Ergebnis des „Urban-Financial-Complex“, der im Ergebnis eine „Neo-Haussmannisierung“, also eine generalstabsmäßig geplante Restrukturierung der Innenstädte zur Folge habe.Wer Bialobrzeskis Shanghai-Bilder neben seine dichte Analyse legt, mag der harschen Kritik glauben. Aber Merrifield sieht auch die europäische Stadtentwicklung unter dem Brennglas von Lefebvres Diktum: „The more cities upsize and the more urban society emerges, the more steady salaried work will downsize.“ Ausschluss und Vertreibung in Geschichte und Gegenwart ist somit nicht Gegenüber und Problem der Stadtplanung, sondern Teil der Übung. Wer aber beispielsweise die unzähligen Spaßbäder – mit denen sich Kommunen ihre Haushalte nachhaltig versaut haben – als Liebesspiel zwischen Kapital und Obrigkeit versteht, malt an einem etwas simplen Bild.Placeholder infobox-2Bekannt ist allerdings, dass es nicht nur in Afrika und Asien an bezahlbarem, klug entworfenem Wohnraum fehlt. Der Sprung von Abidjan oder Delhi nach Stuttgart-Echterdingen ist dennoch weit. Zumindest im Vorwort seines neuen Buchs Der Wohnkomplex verweist der FAZ-Journalist Niklas Maak auf die Unterschiede, sieht hüben schnelle Verstädterung, infrastrukturelle Mängel und existenzielles Elend, und drüben starres Festhalten von Politik und Wirtschaft an Bauformen, die den Lebensentwürfen zukünftiger Bewohner nicht mehr entsprächen. Das Elend, das Maak deutlich mehr bekümmert als die Orte, die Bialobrzeski besucht, ist primär auch kultureller Natur: Wiederkehrend (und zu Recht) echauffiert er sich über die Verödung der Innenstädte sowie die Zersiedelung der Vororte mit billig und schlecht gebauten Häusern. Dagegen fordert er eine „neue Habitologie“.Der Wohnkomplex endet mit einer Handlungsanweisung („Ändert die Gesetze!“), blickt aber zuvor eher flüchtig auf historische Prozesse des Städtebaus in Deutschland. Dabei täte sich hier ein reichhaltiges Feld auf, immerhin klingt das freidemokratische „Privat vor Staat“-Gerede noch bis tief in die Sozialdemokratie nach. Vielmehr findet man weiträumige Analysen, in die auch Brasiliens Favelas, die Historie der Einfamilienhäuser, das Versagen der Politik, die Stararchitektin Zaha Hadid, die Sharing Economy, die Sprachkrise der Architekten, die ökonomischen Interessen der Bauwirtschaft oder das Leben im Kollektiv hineinspielen.Wer den Wohnkomplex durcharbeitet, findet eine Fülle interessanter Gedanken, die gewiss nicht alle neu sind, nicht zwangsläufig miteinander zu tun haben, aber auf den ersten Blick gut nebeneinander wirken. Maaks zentrale Kritikpunkte am hiesigen Städtebau sind hausgewordene Profitmaximierung und die lähmend langsamen Prozesse in Politik und Verwaltung. Außerdem zielt die Kritik am Eigenheimtraum im nur automobil zu erschließenden Grünen ins Herz der Häuslebauer. Nur gelingt es Maak nicht immer, etwas wirklich Substanzielles zur Gentrifizierung zu sagen.Wo Andy Merrifield soziologische Diskurse terminologisch überprüft, fehlt dem begriffstarken Maak ein theoretischer Apparat. Und so gleiten „Dämmstoff-Lobby“ oder „Renditebestrebungen der Bauwirtschaft“ recht frei durch die alles einschließenden Beobachtungen. Als Leser hätte man schon gern gewusst, wie und warum „der Staat“ eben nur noch durch „magere kosmetische Korrekturen“ eingreift oder eingreifen kann. Maak verfranst sich im weiten Feld seiner kulturanthropologischen und bautypologischen Beobachtungen, es regnet Bemerkungen zu Automobildesign, zum Verlust handwerklicher Qualität oder an scheinbar theoretischen Fragen nach Konfigurationen von Privatheit unter dem digitalen Überwachungsschirm.Dichte auf JapanischZwar sind etliche Beobachtungen gut zu lesen, vieles bleibt aber lauwarm: „Vielleicht ist die neue Gemütlichkeit, die seither in den deutschen Bettenreklamen verbreitet wird, auch eine ästhetische Abwehrreaktion.“ Ja, vielleicht, vielleicht auch nicht. Dazu gesellt sich ein echtes Ärgernis: Maak wiederholt Erkenntnisse und Gedanken ständig. Allein vier Mal erklärt er auf sechs Seiten wortgleich, dass das Einfamilienhaus „keine anthropologische Konstante“ ist, er nutzt viele Zitate mehrfach und verläppert Themen durch Kommentare und Beschreibungen eher, als dass er sie tiefer ergründet. Interessant wird es, wenn Maak einen bautypologischen Kulturtransfer vorschlägt und einen Bogen zwischen Tokio und Echterdingen oder Berlin-Mitte schlägt. Maak will mit der vielfach diskutierten, preisgekrönten neuen japanischen Architektur deutsche Innenstädte nachverdichten. Darin sieht er heutige Vorstellungen von Familie, Single-Lebensentwürfen und Wohnwünschen der Digitalmoderne aufgehoben. In den Arbeiten von Yoshiharu Tsukamoto oder den Yokohama-Apartments von One Design findet er die Möglichkeiten zum „gar nicht zwanghaften Kollektiv“ im „postfamiliären“ Rahmen unter dem Banner der „Hospitality“. Wohnen und Arbeiten werden vereint.Niklas Maak blickt auf die verästelten Bauten, in denen die Grenzen zwischen Innenräumen und äußeren Gefilden flexibel sind, kleine Gärten und intime Zellen neben gemeinschaftlichen Räumen sitzen: eine Architektur, die klassische Begriffe von Haus und Wohnung hintertreibt. Die alte – und vielleicht etwas idealisierte – Dorfstruktur sei so von Muffigkeit befreit und als Gemeinschaftsstruktur erhalten: „Eine Form von zwangloser Nachbarschaft entsteht, eine Art Straße, an der offene Küchen liegen, die Kinder können unbesorgt im innerstädtischen Paradiesgarten spielen.“ Japanische Hutongs reloaded, könnte man denken.Niklas Maaks Blick ist durch einen sympathischen Glauben an die soziale Macht der Form getrieben – das ist ein Gedanke, der in Deutschland kaum eine Rolle spielt, wie gefühlt 80 Prozent der Einfamilienhäuser bezeugen, die ohne Zutun von Architekten gebaut werden. In der Form findet er den Verweis auf eine realisierbare Utopie: die Gemeinschaft. Klingt gut, aber dann fragt man sich eben doch, wie sich denn dieser Gedanke der japanischen Architektur in den ästhetischen Mittelstands-Slums von Düsseldorf-Bilk oder Berlin-Heinersdorf plötzlich gegen Profitinteressen und Eigenheimtraum durchsetzen soll.Placeholder infobox-1
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