Rot-Grün SPD und Grüne führen erstmals einen gemeinsamen Bundeswahlkampf. Aber gibt es denn dieses Lager noch oder handelt es sich nur um ein Machtprojekt?
In den achtziger und frühen neunziger Jahren gab es noch Bundestagswahlkämpfe, in denen die Sozialdemokraten partout kein Bekenntnis zu einer rot-grünen Koalition auf Bundesebene abgeben wollten. Diese Zeit ist nun vorbei. Rot-Grün ist mittlerweile nicht nur die Wunschallianz für Regierungen; man alliiert sogar bereits in der Opposition.
Vor zwei Jahren rief man gemeinsam zu Anti-AKW-Demonstrationen auf und präsentierte zusammen Joachim Gauck als Kandidaten für das Bundespräsidialamt. Am vergangenen Wochenende redete Claudia Roth auf einem Bundesparteitag der SPD. Es wird gar gemunkelt, dass demnächst Jürgen Trittin eine der vielen zirkulierenden Taschenuhren der Parteilegende August Bebel geschenkt bekommen soll, die sonst lediglich den jew
ch den jeweils frisch gekürten Vorsitzenden der deutschen Sozialdemokratie vorbehalten bleibt.Ein wenig verstörend ist allerdings schon, dass Rot-Grün die Lagermauer so demonstrativ hochzieht, während überall vom Ende solcher Milieus die Rede ist. Selbst in der akademischen Soziologie, der Geschichtswissenschaft, nicht zuletzt bei öffentlichkeitsaktiven Parteienforschern ist es seit Jahren herrschende Lehre, dass die überlieferten Ideologien zerbröseln, sich alte Bindungen auflösen, Werte und politische Zuordnungen im Fluss sind. Das Elektorat sei rundum volatil geworden, heißt es im näselnden Jargon der Politanalysten. Dann aber wäre die rot-grüne Lagerfixierung ein merkwürdiger Anachronismus. Ja, eine fulminante strategische Fehlleistung?Es gibt ein LagerdenkenAndererseits aber orientiert sich ein Großteil der Wähler mit großer Selbstverständlichkeit an den Links-Rechts-Achsen. Sie siedelten sich ohne Bedenken politischen Orten und Spektren zu. Die Parteiidentifikation hat sich gelockert, aber Übertritte in das konträre Lager finden keineswegs in relevanten Größen statt. Volatilitäten von der CSU zur Linken, von den Grünen zur FDP sind nach wie vor ungewöhnlich anmutende Raritäten.Die politischen Lagergrößen sind verblüffend gefroren: Das altbürgerliche aus CDU/CSU und FDP erhielt bei den Bundestagswahlen in den Jahren 2002 und 2005 jeweils 45,9 bzw. 45,0 Prozent der Stimmen – um diese Werte oszilliert es auch wieder in diesen Monaten. Das eher linke Spektrum aus Sozialdemokraten, Grünen und Linken lag in dieser Zeit zwischen 51 und 49 Prozent. Ein Ausrutscher bildeten die Bundestagswahlen von 2009 – durch die massive Wahlenthaltung vormaliger SPD-Wähler.Dennoch ist das altbürgerliche Lager konsistenter als das sogenannte linke. Man hat das bei den Landtagswahlen in Niedersachsen wieder gesehen, als bürgerliche Funktionswähler mit Präferenz für die CDU die deutlich angezählte FDP noch einmal zum Leben erweckte und dadurch den rot-grünen Wahlsieg fast noch vereitelt hätten. In Niedersachsen gaben 77 Prozent der FDP-Zweitwähler ihre Erststimme der CDU, während es auf Seiten der Grünen nur 39 Prozent, auf der Linken lediglich 15 Prozent für die Sozialdemokraten taten. Hier fallen die politischen Differenzen offenbar stärker ins Gewicht als Gemeinsamkeiten.Ein rot-rot-grünes Lager gibt es politisch nicht. Es hat auch niemand aus den drei Parteien ernsthaft daran gearbeitet. Woanders würde man vom „Elite-Versagen“ sprechen. Rot-Grün dagegen scheint als Allianz festzustehen. Siehe Nordrhein-Westfalen, Niedersachsen und Baden-Württemberg. Dieses Muster löst bei Umfragen während der letzten Jahre mehr Sympathiebekundungen aus als Schwarz-Gelb, das trotz des Merkel-Bonus eine bemerkenswert ungeliebte Allianz geblieben ist.Und doch ist die zuweilen sentimentale Zuneigung sozialdemokratischer Funktionäre für die Grünen weiter unten in der Partei erheblich weniger anzutreffen. Rot-Grün erreichte 1998 eine parlamentarische Mehrheit, da die Sozialdemokraten ihr Potenzial bei Arbeitern und kleinen Angestellten erstaunlich weit ausschöpften. Aber gerade diese Schicht setzte sich schon bei den ersten Landtagswahlen 1999 in Hessen wieder ab. Der grüne Postmaterialismus, die neue Einbürgerungspolitik, die Ökosteuern, die Frauenförderungserlasse waren ihnen kulturell und sozial eher zuwider. Man kann deshalb ein wenig überspitzt sagen: Rot-Grün hat die gesellschaftliche Abspaltung und politische Entheimatung des unteren Fünftels erheblich beschleunigt und hernach verfestigt. Das ist zumindest einer der Gründe, warum die Sozialdemokraten 2009 bei kläglichen 23 Prozent der Stimmen landeten.Es gibt „unten“ kaum FansDas ist sicher eine Ursache dafür, dass die SPD derzeit bei Umfragen vor sich hin dümpelt. Als vor zwei Jahren der damalige Bundesumweltminister Sigmar Gabriel als Mobilisierungsterrain für seine Partei den Demonstrationen gegen die Atomenergie beitrat, trieb er die Werte für die Grünen in die Höhe. Mit Joachim Gauck als Mann für die bundespräsidialen Reden mochte für einige Tage zwar die Bundeskanzlerin trefflich geärgert worden sein. Aber der liberal-konservative Pfarrer war und ist kein Kandidat für das arbeitnehmerische Deutschland, sondern für nachdenklich dreinschauende Berufszuhörer in evangelischen Akademien. Schließlich: Die Energiewende mag grundvernünftig sein. Grüne Lobbygruppen dürften in den nächsten Jahren auch materiell lohnenswerten Honig daraus saugen, aber im „sozialen Unten“ wird man aller Wahrscheinlichkeit nach etliche Verlierer der Preisentwicklung im Energiesektor finden. Jedenfalls sind schon jetzt gerade dort regelrechte Ängste zu erkennen – in einer früheren Kerngruppe der SPD also.Weiterhin ist die Erinnerung an die von den Meinungseliten so enthusiastisch gepriesene Agenda 2010 noch in schlechtester Erinnerung: Im unteren Fünftel wurden die rot-grünen Transformationen des Sozialen nicht, wie ihre Demiurgen verkündeten, als Türöffner für neue soziale Chancen wahrgenommen, sondern als Bedrohung, Demütigung und Entwertung. Hier, in diesem benachteiligten Bereich der bundesdeutschen Gesellschaft, fiel die Ablehnung der rot-grünen Sozialreformen am vehementesten aus; im Milieu der Postmateriellen verzeichnete man hingegen prononcierte Zustimmung.Ein deutsches Unikum ist das nicht. Schauen wir nach Schweden, wo die Sozialdemokraten, lange als „ewige Regierungspartei“ gekennzeichnet, als Vorbild für die europäischen Schwesterparteien galten. Dann aber verloren sie 2006 die Reichstagswahlen; noch einmal und noch stärker vier Jahre später, als sie in einem festen rot-grünen Lager aus der Opposition heraus antraten. Doch die Annäherung an die modernen ökologischen Bevölkerungsgruppen brachte keineswegs den erhofften Stimmenanstieg. Erst recht nicht die Rückkehr an die Macht, sondern sie sorgte für einen weiteren Zerfall der traditionellen Wählerfundamente.Es gibt viel ArgwohnAls Reaktion auf diese Malaise hievte die SAP in Schweden vor gut einem Jahr erstmals in ihrer Geschichte einen Gewerkschaftsführer an die Spitze der Partei, der keinen Hehl aus seinem Abstand zum rot-grünen Bündnis machte und dazu noch – im Widerspruch zur offiziellen Programmatik seiner Partei – offensiv den weiteren Ausbau der Atomkraft propagierte.Das steht in Deutschland nicht zu erwarten. Auch ist der Argwohn gegen Grüne hier in den Gewerkschaften mittlerweile erheblich geringer. Zwar schauen Traditionslinke misstrauisch hin, wenn Alt- und Neubürgerliche koalitionspolitische Versuchsballons steigen lassen, wenn das Vernissage- und Opernpublikum aus christdemokratischen und grünen Wohlstandsquartieren sich gemeinsamer hochbürgerlicher Kulturkennerschaft versichern und sich darin von den weniger stilsicheren Sozialdemokraten süffisant abgrenzen. Und auffällig ist ebenfalls, wie die im Laufe der Jahrzehnte älter gewordenen Kernanhänger der Ökopartei nunmehr die Bedeutung klassisch-konservativer Umgangsformen und Verhaltensnormen wie Respekt, Pünktlichkeit, auch Leistung und Arbeitsdisziplin innerfamiliär rehabilitiert haben.Auf der anderen Seite sind Grün-Wähler mit dezidierter Parteiidentifikation deutlich gegen weitere Kürzungen im Sozialbereich. In dieser Eindeutigkeit bilden sie den Kontrastpunkt zu den Sympathisanten der FDP, unterscheiden sich darin aber auch markant von den Christdemokraten.Schon im Wahlprogramm von 2009 platzierten sich die Grünen eher links von der SPD, versprachen das Arbeitslosengeld II zu erhöhen, die Bürgerversicherung einzuführen, Mindestlöhne zu generalisieren, beim Spitzensteuersatz zuzulegen, überhaupt die großen Vermögen stärker zur Finanzierung eines gigantischen Investitionsprogramms für Bildung und Ökologie heranzuziehen. Schon damals hatten Nörgler zwar spöttisch angefragt, warum man all diese schönen Absichten nicht in den rot-grünen Regierungsjahren realisiert, sondern das genaue Gegenteil exekutiert habe. Aber auch im Jahr 2013 treten die Grünen als „Robin-Hood-Partei“ an, die – so der Spiegel in der vergangenen Woche – „ihre betuchten Wähler dazu bringen wolle, dass sie der Erhöhung der Steuern applaudieren.“ Würden diese Pläne Gesetz, hätte ein Lediger mit einem Jahresbrutto von 80.000 Euro 948 Euro mehr zu entrichten.Nimmt man die Erfahrungen mit der „Mitte“ in der deutschen Gesellschaftsgeschichte, wird man den Zweifel zulassen müssen, ob solche steuerzahlende Selbstlosigkeit Realität wird. Gerade die soziale Mitte ließ sich, kam es zum Schwur, wenig von altruistischen Gesten leiten, sondern folgte dem durchaus legitimen besitzbürgerlichen Eigeninteresse. Eine größere Studie der grünennahen Heinrich-Böll-Stiftung hat unlängst belegt, dass besonders bei den Grenz- und Neuwählern der Grünen sehr empfindlich darauf geachtet wird, dass die löblichen Ökoreformen nicht die materiellen Bestände negativ tangierten.Anders allerdings ist die Mentalität der harten Gesinnungsgrünen, der Kernformationen im ökologischen Neubürgertum. Hier hat sich gar ein Stück Reideologisierung vollzogen. Gesundheit, Ernährung, Energieversorgung, hier kennen prätentiöse Grüne keinen Spaß. Den Selbstverboten in der hedonistischen Lebensweise folgen schon politische Verbotsstrategien über die staatliche Gesetzgebung. Wer Alkohol konsumiert, raucht, Gemüse nicht goutieren mag, sorglos Wasser verbraucht, die Wohnräume überheizt, der darf nicht mehr mit Nachsicht rechnen.Grüne lieben Demonstrationen der Differenz, gerade Richtung „unten“, aber das geht zu Lasten eines mehrheitsfähigen rot-grünen Lagers. In postmateriellen Lebenswelten kauft man Bio, während man in Hartz-IV-Kreisen zu Lidl geht. Eine wissenschaftliche Studie der Forscher Nina Mazar und Chen-Bo Zhong, in der Fachzeitschrift Psychological Science unter dem Titel „Do Green Products Make Us Better People?” erschienen, ergab, dass Kunden von Bioläden sich im sonstigen Sozialleben keineswegs anständiger oder solidarischer als andere Konsumenten verhielten. Im Gegenteil: Sie benehmen sich – Öko-Bio-Bonus? – oft rücksichtsloser als der Rest. Eine Expertise aus der Loyola University in New Orleans hat den Befund jüngst bekräftigt: Testteilnehmer zeigten, allein, weil sie zuvor Öko-Waren aus einem Bioladen zu Gesicht bekommen hatten, eine geringere Hilfsbereitschaft gegenüber Bedürftigen. So jedenfalls löst Rot-Grün bei den Benachteiligten der Republik keine Hoffnungsgefühle aus. Im Gegenteil.
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