Vorrevolutionäre Bücher werden häufig daraufhin gelesen, inwieweit in ihnen das bevorstehende Ereignis geahnt wird. Ende des 18. Jahrhunderts aber relativierte die von der französischen Revolution markierte Zäsur alles, was zuvor gedacht und imaginiert wurde. Die "révolution dans l´esprit humain", von der d´Alembert 1759 schrieb, bezog sich noch auf den Streit der Ideen, von denen die einen das Ancien Régime legitimierten, die anderen hingegen modern waren. Zwanzig Jahre später ging der Moderne Louis-Sébastien Mercier einen Schritt weiter, indem er die aufklärerischen Gedanken auf ihre Realitätstüchtigkeit hin prüfte. Die "philosophes", Inhaber der historischen Vernunft, wollen sich auch daran messen lassen, inwiewe
eweit sie das öffentliche Wohl, über das längst nicht mehr in Versailles, sondern in der Großstadt Paris entschieden wird, befördern können. Mercier wird zu einem Menschen in der Menge, durchstreift Paris, die "beaux quartiers" wie die Kloaken, Armenhäuser und Bordelle. Seinen Zeitgenossen war sein lockerer Reportagestil suspekt, der Realismus der Milieuskizzen stieß selbst Gutwillige ab. Mittlerweile gilt er als Wegbereiter des Journalismus und der Großstadtliteratur; man könnte ihn aber auch einen frühen Soziologen oder, hätte heute dieses Wort nicht einen so unerquicklichen Beigeschmack bekommen, einen der ersten Sozialdemokraten nennen. Die Reportagen stehen noch ganz im Zeichen aufklärerischen Wohlwollens, denn Mercier formuliert die Maxime: "Mißstände anzuprangern heißt schon ihren Untergang einzuleiten." Postmoderne Regierungspolitik hingegen funktioniert anders, denn zweihundert Jahre später ist die Anprangerung von Mißständen unentbehrlich, um ihr Fortbestehen zu sichern. Die Aktualität von Merciers Texten besteht darin, permanent solche zeitüberschreitenden Assoziationen zu provozieren, denn wie in wenigen Büchern liegt hier ein historisches Gefühl abrufbereit, das alle Stadien von Verfremdung und Wiedererkennen durchläuft. Natürlich sorgt bereits die Popularität von Paris für diesen Effekt, oder der Rang als Muster, dem andere Großstädte nacheifern. (Tucholsky etwa schrieb in den zwanziger Jahren über Berlin, die Stadt seiner Träume aber war die französische Metropole.) Sätze wie "Im Marais gehen die Gemüsegärten zurück und weichen Gebäuden" evozieren eine gut bekannte Topographie. Wer mit dem Tableau de Paris in der Hand durch die "bcbg"-Buden des Marais flaniert, entwickelt dabei vermutlich mehr historisches Bewusstsein als jemand, der eine dicke Geschichte Frankreichs durchackert. Der Grund hierfür liegt nicht zuletzt darin, dass Mercier zehn Jahre vor der französischen Revolution noch Haltungen vereinbaren konnte, die sich wenig später nur in streng getrennten Existenzen wiederfanden. Seine Anprangerungen des Luxuskonsums, sich biegender Tafeln und sozialen Zynismus führen zu jener Form von Gesellschaftskritik, die durch die Theorie antagonistischer Klassen konkretisiert und politisiert wurde. Die Klage über das Los der Armen und Schwachen kann in bürgerlicher Sozialfürsorge wiederentdeckt werden, ebenso wie das Plädoyer für öffentliche Hygiene und Bedürfnisanstalten in der Reformbewegung hundert Jahre später wiederkehrt. Auch die andere, ordnungsfetischistische Seite bürgerlicher Mängelbeseitigung ist hier in nuce vorhanden, wenn Mercier wiederholt gegen Unmoral und Ausschweifung wettert. Redundanz nährt immer Ideologieverdacht. Der treusorgende Familienvater, wie ihn die englische Literatur im 18. Jahrhunderts in der Garderobe des Kaufmanns entdeckte, wird auch hier zu einem Schutzwall vor den moralischen Untiefen im Untergrund der Stadt. Mercier wird nicht müde, diese Verderbtheit anzuprangern. Der Bohémien, der durch seine Vertrautheit mit dem Laster das Publikum entzückt, wird sich nicht auf ihn berufen können. Das historische Bewusstsein muss sich allerdings auch durch Dilemmata kämpfen. Mercier beschreibt sehr prägnant den Gestank und Lärm, die Umweltverschmutzung und Luftverpestung im Paris der achtziger Jahre. Wenn aber Zustände, die wir für das Privileg der Gegenwart halten, sich bereits in der Vergangenheit finden, relativieren sie unsere Erfahrung. Heutige Missstände werden dadurch nicht erträglicher, aber das Wissen, dass frühere Generationen sich mit ähnlichen Problemen herumschlugen, führt zu begründeter Sympathie mit einem Autor, der so beredt das Dauergepolter der adligen Kutschen, den Gestank der Senkgruben, Friedhöfe und Schlachtereien beschreibt. Was hätte Mercier nicht alles zur Autopest, zur chemischen Industrie oder Atomkraftwerken zu sagen gewusst? Es ist vor allem die Kombination aus Ähnlichkeit und Fremdheit, aus historischen Konstanten und Brüchen, die das Tableau de Paris zu einem Evergreen machen. Vor allem Merciers stilistische Eigenheit, die nicht individueller Befindlichkeit, sondern dem Gefühl der Zeit entsprang, entfaltet eine ungebrochene Attraktivität. Mit Vorliebe und an entscheidenden Textstellen benutzt Mercier die Zeitformen Futur und Konditional. Vieles ist noch zu tun, wäre zu sagen, müsste gemacht, begonnen und angestellt werden. Manches kann so schwer nicht sein und wäre doch so von Nutzen. Dieser Autor beobachtet sehr genau die sozialen Verhältnisse und sprüht voller Ideen. Seine zwischen 1781 und 1788 entstandenen Texte sind soziologische Untersuchung, Reisebericht, Sittenlehre, Reformschrift und Pamphlet in einem. Sollte daran aktuell kein Interesse mehr bestehen, wäre das sehr bedauerlich, denn hier ist zu lernen, wie eine literarische und journalistische Produktion aussähe, die von Interesse sein kann - und das wäre heute doch schon was, wo Futur und Konditional nur noch bei den Börsenvorhersagen Verwendung finden.Louis-Sébastien Mercier: Pariser Nahaufnahmen (Tableau de Paris). Ausgewählt und übersetzt von Wolfgang Tschöke. Mit Photographien von Eugène Atget und Hippolyte Bayard, Die Andere Bibliothek, Eichborn Verlag, Frankfurt am Main 2000, 356 S., 29,65 EUR
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