Schöne tote Sprache

MADE IN USA Zeichnungen aus fünf Jahrzehnten in Berlin

Richard Serra hat das Stichwort geliefert, er spricht das Credo der Ausstellungsmacher: Zeichnen ist eine andere Art von Sprache.

Unter diesem Titel zeigt die Berliner Akademie der Künste Neuere amerikanische Zeichnungen aus einer New Yorker Privatsammlung, die 104 Arbeiten von 48 Künstlerinnen und Künstlern präsentiert.

Als eine Art von Sprache ist die Zeichnung ein widersprüchliches Konstrukt. Es oszilliert zwischen der Autonomie der Zeichen und der Setzung des Autors. Übertragen auf den amerikanischen Kunstdiskurs der sechziger Jahre, stellt sich diese Relation als Gegensatz von Objekt und Konzept dar.

Die Rezeptionsgeschichte von minimal- und concept art setzt früh ein und ist, wie die Arbeiten der in den sechziger Jahren geborenen Künstler zeigen, noch nicht abgeschlossen. Zeichnungen aus fünf Jahrzehnten hat Werner Kramarsky in seiner Sammlung zusammengetragen, und alles was Rang und Namen hat, ist dort vertreten: Robert Rauschenberg, John Cage, Jasper Johns, Ellsworth Kelly, Ad Reinhardt, Frank Stella, Barnett Newmann, Agnes Martin, Robert Morris, Donald Judd, Sol Le Witt, Dan Flavin, Eva Hesse, Richard Serra, Robert Smithons, Bruce Nauman, um nur einige zu nennen.

Minimal und concept art gelten als erste und entschiedenste Antwort der USA auf die europäische Moderne. Deren Mythos galt es zu brechen, um die Hybriden abendländischer Selbstreflexion auf der Ebene des Werkbegriffs amerikanisch-pragmatisch neu verhandeln zu können.

Der Auftakt mit Arbeiten von Robert Rauschenberg, Jasper Johns, John Cage, Ellsworth Kelly, Frank Stella und Ad Reinhardt zeigt, was von Dada bis Surrealismus zu beerben war. Cages Bleistiftzeichnung von 1983 entstand nach dem Zufallsprinzip, ein Ableger der surrealistischen »écriture automatique«. Kelly zeichnete Smoke From Chimneys 1950 mit geschlossenen Augen, um Blick und Intellekt zu stören. Komposition galt als Sakrileg. Rauschenberg dagegen beherrscht sie in Untitled (Mirror) meisterlich: in der Aufteilung der Bildzonen und der akzentuierten Setzung der Farben. Gleichzeitig konterkariert er seine Handschrift durch Abreibungen von Bildvorlagen oder das Einkleben von Papierstreifen. Alles ist Material. Auch Johns frühe Blätter sind disparate Gefüge aus delikater Zeichnung und objekthaften Einsprengseln: Buchstaben, tropfender Farbe oder Lineale werden zu Readymades der Grenzüberschreitungen zwischen Zeichnung und Skulptur, Objekt und Ereignis, schließlich zwischen »Kunst und Leben«.

Rauschenbergs und Johns' Arbeiten führen die Auflösungserscheinungen des Modells Kunst noch als binäre Oppositionen im Bild selbst vor: als Angriff auf die Autorenschaft, auf die handwerkliche Originalität, auf die ganze Atelierästhetik. Dieser symbolischen Versöhnung der Herrschaft des Faktischen mit der Kompetenz des Künstlers versagen sich die rebellischen Künstler in den Sechzigern.

Ad Reinhardt steht Mondrian nah. In der Ausstellung ist die Übermalung einer fotografischen Reproduktion eines Black Painting mit Deckfarbe zu sehen. Es macht den Reiz des privaten Charakters der Zeichnung aus, daß sie in untypische Arbeitsweisen Einblicke gibt. Pinselspuren sind in Reinhardts Malerei undenkbar. Das mit stumpfer Farbe kaschierte Foto ist im Zusammenhang mit seiner permanenten Kritik an Reflektionen auf Fotografien zu sehen, die Reinhardt als eklatanten Eingriff in seine Malerei mißbilligte, da sie diese optisch auf die Umgebung bezogen. Aber erst ein »zeitloses, raumloses, wandelloses, beziehungsloses, interessenloses Bild« mache Kunst zur Kunst. Keiner hat die Austreibung des Persönlichen so weit getrieben wie Reinhardt. Als Frank Stella Ende der fünfziger Jahre seine Black Paintings malt, ist Reinhardt bereits ein Guru des Purismus, der mit seinen standardisierten monochromen Farbfeldern Generationen amerikanischer Künstler geprägt hat. Auch, weil er nicht nur formal, sondern auch sprachgewaltig die Negierung jedweder Referentialität der Kunst propagierte.

Stellas Study bezieht analytisch Position zum malerischen IIlusionismus. Auf einen hellen Grund reiht er mit schwarzer Tusche Streifen an Streifen. Aus Distanz wahrgenommen, verkehrt sich das Verhältnis von Figur und Grund. Die weißen Zwischenräume treten dann als gezeichnete Linien hervor, ein Effekt, der ihnen mehr Identität zuspricht als den schwarz aufgetragenen Flächen.

In Zeichnungen jüngeren Datums, wie zum Beispiel bei Jill Baroff, Eve Aschheim, Carole Seborovski oder Nancy Haynes wird die illusionierende Verschiebung der Bildgründe zum Thema gemacht. Aber Stella ging es darum, die materielle Struktur optischer Illusionierung freizulegen. Es war ein analytischer Akt der Entzauberung, dem auch der serielle Charakter seiner Arbeiten diente. Reihungen und Rasterungen sind ein häufig anzutreffendes Gestaltungsprinzip in der Ausstellung. Ob bei Robert Mangold, Jol Shapiro, Agnes Martin, ob bei Sol LeWitt, Mark Sheinkman oder Elena del Rivero, Künstlerinnen und Künstler aller Altersgruppen haben sich seiner bedient. Die Intentionen, die sich an die Assoziation des Seriellen knüpfen, mögen verschieden sein, zurückführen lassen sie sich auf den minimalistischen Ansatz, Kunst als eine Art von Sprache zu begreifen, die vermittelnd zwischen ihr und der Gesellschaft stehe. Ihr Ausgangsmaterial konnte folglich nur universell sein, ohne Botschaft, ohne Ausdruck. Kein Apriori. »Der serielle Künstler« so Sol LeWitt, habe ein »Büroangestellter« zu sein. LeWitt spielt in seinen Blättern Möglichkeiten des Visuellen durch, die zwar nicht mehr auf den stringenten Ansatz der minimalistischen Gründerzeit reduzierbar sind, aber vom Impuls damaliger »Sprachfindung« zehren.

Die Zeichnungen von Carl Andre, Donald Judd, Dan Flavin, Robert Morris, Robert Grosvenor aus den sechziger Jahren stehen für die Arbeit an einem neuen Kunstmodell parallel zur Linguistik: Modulare Ordnungen, architektonische Körper oder technoide Objekte ersetzen als absolute Sprach-Äquivalente künstlerische Kompetenz. Kunst sei dies nur, so Judd beiläufig, »wenn es jemand Kunst nennt.«

Von den Blättern jüngerer KünstlerInnen sind nur Ann Ledys Rotationszeichnungen von 1995 mit den reduktionistischen Entwurfszeichnungen damals vergleichbar. Obgleich die minimalistischen Zeichnungen als Versuchsanordnungen für skulpturale Objekte und Rauminstallationen entstanden, illustrieren oder illusionieren sie keine reale Situation. Sie protokollieren Tatsachen als Erfindungen. Darin sind sie mit den Blättern der Konzeptualisten Bruce Nauman (Acoustic panels, sept. 1969 ) und Lawrence Weiner (Untitled von 1966) vergleichbar. Zeichnen ist subjektive Setzung, mit dem Unterschied, daß Nauman und Weiner der Idee, nicht dem Material ihrer Installationen Priorität zusprechen. Da sie autonom und per se an keine Wahrnehmungsweise und Struktur gebunden ist, kann die Idee nicht adäquat repräsentiert werden und hinterläßt sie in den Zeichnungen von Nauman und Weiner nur Spuren mit der Beiläufigkeit handschriftlicher Notizen. Naumans sensible Strichzeichnung scheint daher den Chiffren in Cy Twomblys Rome näher zu stehen als Flavins Leuchtröhrenprojekt.

Künstlerische Arbeiten sind kaum mit Programmen kompatibel. Die Grenzen gegensätzlicher Konzepte sind fiktiv, die Schnittstellen vielfältig und die individuellen Rezeptionsgeschichten besitzen ihre eigene Dynamik. Eva Hesses Zeichnungen entziehen sich Zuordnungen, lassen sich aber auch nicht außerhalb der minimalistischen Kunstrevolte denken, deren kompromißlose Versachlichungsstrategie die Mythen zum Material degradierte. Hesse verfügt intellektuell und experimentell über den Formenvorrat der jüngsten Kunstgeschichte. Ihre Arbeiten lassen sich als symbolische Akte ihrer Einverleibung lesen. Dem minimalistischen Repertoire vermag sie eine psychische Dimension abzugewinnen, wie eine Tuschezeichnung von 1966 zeigt. Die strenge Anordnung zweier monochromer Quadrate auf der Mittelachse des Papiers bricht sie durch die Zartheit ihrer Pinselzüge, mit der sie konzentrische Kreise in die beiden Vierecke einschreibt.

Der Auftakt mit den Verweisen auf das europäische Erbe, weckt falsche Erwartungen, jedenfalls für jene, die bei Kunst auch an Geschichte denken. Historische Kontexte sind lästig, wenn es, wie man im Begleittext zur Ausstellung nachlesen kann, um Kunst »in ihrer ureigenen Ästhetik und Werdung« geht. In der geistigen Tradition des neuzeitlichen Disegno beschwört die Ausstellung den Mythos von Zeichnen und Zeichnung als Ursprung gestalterischen Denkens, als habe die mediale Sonderrolle die Gattung Zeichnung vor den Erosionskräften moderner Diskurse bewahrt, die Malerei und Plastik in den Strudel der Kontextualisierungen gezogen haben.

Daher kann zum Beispiel Barnett Newmans abstrakt-expressive Tuschezeichnung von 1946 zwischen Sharon Loudens Tight von 1993 und William Anastasis Subway Drawing 2-3-93m 13:00, von 1993 hängen. Zwar folgen sie verschiedenen Intentionen - Anastasis Linienbündel ist ein seismografisches Protokoll einer U-Bahnfahrt auf dem Weg zu John Cage - wichtig wird, was sie verbindet: die visuellen Zeichen des Gestischen.

Die Attacken auf die Mythen des Ichs haben sich längst im Kunstkontext entschärft. Ihre ästhetischen Phänomene sind dort rezipiert und von den historischen Strukturen absorbiert worden. Radikal sind sie nicht mehr. Den technisch perfekten Zeichnungen der Jüngeren fehlt die experimentelle Energie der ehemaligen Kunsterneuerer. Es kann ihnen nicht vorgeworfen werden, wenn Innovationen in Konventionen münden.

Braucht es das nicht, um Sprache zu werden? Heute greifen KünstlerInnen zwanglos in den formalen Fundus und spielen souverän auf der Klaviatur der ästhetischen Effekte. Rasterstrukturen, Verwischungen, triviale Fundstücke, mechanische Verfahren - alles kann zu ambivalenten und sublimen Bildwelten kombiniert werden. David Jeffreys Kohlezeichnung 9. 19. 90 von 1990 ist nur ein typisches Beispiel für den wohlkalkulierten Einsatz formaler Möglichkeiten: Wenn er ein Gitterraster im diffusen Staubschleier auflöst, wenn er Transparenz gegen Dichte, Leichtigkeit gegen Schwere setzt, Disharmonien akzentuiert, um sie in schöner Balance zu befrieden.

Nichts kann darüber hinwegtäuschen, daß heute die Wirkungungsskala der ästhetischen Mittel von damals rational beherrscht wird. Man hat vielen jüngeren Künstlern keinen Gefallen getan, Zeichnungen nach bildästhetischen Analogien zu ordnen. Zu offenkundig ist die handwerkliche Perfektion, mit der das Unmittelbare, Irritierende, Intime oder Beiläufige ästhetisch inszeniert werden. Sprach-Mittel als formalistisches Erbe oder universelles visuelles Vokabular? Die Ausstellungsmacher tun viel, um über das disparate Konvolut eine Aura der Zeitentrücktheit zu stülpen. Bildbeschriftungen stören nicht die Unmittelbarkeit des »Sinnen-Reizes« und auch das schäbigste Blatt wird hinter der edlen Rahmung zur Pretiose.

Die Sehnsucht nach Authentischem ist groß und legitim. Im Zeichnen kann sie gestillt werden. Aber die Zeichnung hängt in Babylon. Und in dieser Ausstellung wird nur eine Sprache gesprochen. Eine schöne, aber tote Sprache.

Bis 25. April 1999, Akademie der Künste Berlin

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