Schreckensbotschaft aus der Küche

Europa-Trilogie Milo Rau beschließt seine Bühnenerzählung über die Verwerfungen unseres Kontinents mit „Empire“
Ausgabe 36/2016

Hier könnte jetzt auch Romeo und Julia oder Rigoletto gegeben werden. Wie zur Beglaubigung, dass hier tatsächlich Theater gespielt wird, hat Milo Rau eine Fassade mit gotischen Arkaden und Balkon auf die Drehbühne gestellt. Aber nicht nur rufen Brandspuren und zersplitterte Fensterscheiben eine Realität auf, die Theater nicht zulässt und vom Theater nicht abzubilden ist. Die Kulisse steht auch für ein kulinarisches Spektakel, das es wegzuräumen gilt.

Dahinter kommt der eigentliche Aktionsraum zum Vorschein: eine kleine, enge Küche mit Tisch und Bett. Empire, der große Titel des letzten Teils von Milo Raus Europa-Trilogie, lässt an Haupt- und Staatsaktion denken. Dass die nun nicht als Küchenkammerspiel verhandelt werden, ist Maia Morgenstern, Ramo Ali, Akillas Karazissis und Rami Khalaf zu verdanken. Die Schauspieler eint ein biografischer Hintergrund von Flucht und Vertreibung, ihre Lebensgeschichten arrangiert Rau in klugen epischen Textvorlagen. Es fehlt der Dialog, jedes gespielte dramatische Moment.

Neben Dokumaterial erscheinen die Gesichter der Darsteller in der Schwarz-Weiß-Totalen auf einer Videowand, darunter die Simultanübersetzung. Alle vier sprechen in ihrer Muttersprache. „Ich wollte es immerhin einmal ausprobieren: eine Figur spielen, auf Kurdisch“, sagt Ramon, Ali, der in Syrien gezwungen war, auf Arabisch zu spielen, und seit der Flucht nach Deutschland Deutsch auf der Bühne spricht. Er eröffnet den Reigen mit einem Prolog. Die Bühnenküche habe er nach dem Vorbild jener Küche in seiner Heimat gebaut, in der seine Mutter für 13 Kinder gekocht habe. Was folgt, ist, nicht ohne Ironie und tragische Momente, in fünf Akte gegliedert: „Abstammungslehre“, „Exile“, „Ballade des gewöhnlichen Menschen“, „Über die Einbildungskraft“ und „Heimkehr“.

Durch die Einzelschicksale scheinen die Katastrophen, Brüche und Verwerfungen der (europäischen) Geschichte auf. Das ist weit von gängigen Erzählungen und Erklärungen entfernt. Ramo Ali beschreibt, wie er die Perversionen der Folterverhöre in Assads Gefängnis in Palmyra als Therapie empfindet, Rami Khalaf die Suche des nach Paris geflohenen Bruders in einem Bildarchiv von Opfern des syrischen Regimes. Auch dem Publikum werden die Gräuelbilder auf der Videowand gezeigt – als misstraute man den episch-theatralen Mitteln.

Vor dem Theater

Maia Morgenstern, heute Mitglied des rumänischen Nationaltheaters und Leiterin des Jüdischen Theaters in Bukarest, gibt die gravitätischste Figur ab. Nach dem Sturz Ceauşescus spielte sie in Theo Angelopoulos’ Der Blick des Odysseus und in Mel Gibsons Die Passion Christi die Mutter Gottes. Der Weg des griechischen Theatermachers Akillas Karazissis zur Schauspielerei erscheint dann verschmitzt erzählt so gewunden wie die Odyssee seiner Familie von Odessa nach Thessaloniki, von wo er schließlich vor der Militärdiktatur nach Deutschland floh.

Stehen Morgenstern und Karazissis also für das alte Europa, die Syrer Ali und Khalaf für seine geschundenen Kinder? Die Inszenierung ist klug genug, diese Vermutung zu unterlaufen. Aber will Rau mehr leisten als eine phänomenologische Übung? Nein, die Botschaft lautet: Wir müssen zuhören und zusehen, bevor wir uns ans große Theater oder an die Politik machen.

Info

Empire ist ab 8. September an der Berliner Schaubühne zu sehen. Parallel erscheint der Band Die Europa Trilogie im Verbrecher Verlag

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