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Street Harassment Chance im Netz: Auf der Website Hollaback! berichten Frauen davon, wie alltäglich sexuelle Belästigungen sind

Das Thema geht einem nahe. Einfach, weil man als Frau schon zu oft Szenen wie diese erlebt hat: Jemand fasst einem beim Tanzen im Club plötzlich an den Po. Man dreht sich um, schreit den Grabscher an. Er entschuldigt sich und grinst blöd dabei. Man weicht in eine andere Ecke der Tanzfläche aus, tanzt beschützt von Freunden weiter – aber es macht keinen Spaß mehr.

Erlebnisse dieser Art sind es, die auf dem Online-Portal Hollaback! nachzulesen sind. Der englische Ausdruck dafür: Street Harassment. Gemeint ist Belästigung, die im öffentlichen Raum stattfindet, auf der Straße, im Bus oder Café. Das geht von einem verletzenden Blick, Nachpfeifen und Kommentaren über den Körper bis hin zu Masturbation von Exhibitionisten und physischen Übergriffen. Betroffene fühlen sich oft hilflos, ziehen sich lieber zurück und haben den Eindruck, den öffentlichen Raum jenen zu überlassen, die sie angegriffen haben.

In den Hollaback-Foren können Erfahrungsberichte anonym ins Netz gestellt werden. Darunter erscheint ein Button: „I’ve got your back“, ist darauf zu lesen: „Ich stehe hinter dir.“ 2005 startete die Hollaback-Bewegung in New York. Seitdem sind in 19 Ländern Seiten online gegangen, unter anderem in Indien, Chile oder Südafrika. Durch das Posten der Erlebnisse soll die Öffentlichkeit für das Problem sensibilisiert und Betroffene sollen gestärkt werden. Zudem werden Studien und Links zum Thema gesammelt. Der New Yorker Blog ist inzwischen zu einer eigenen Non-Profit Organisation avanciert. Deren Team koordiniert die internationale Bewegung.

Flirten sieht anders aus

Julia Brilling, die 2011 die erste deutsche Seite für den Raum Berlin gegründet hat und sie zusammen mit zwei anderen Frauen betreut, spricht von zwei bis drei Einträgen pro Woche allein in der Hauptstadt. Den „I’ve got your back“-Button drückten meist so um die 30 Leute. „Da gibt es oft eine Kettenreaktion“, erzählt Brilling. „Wenn jemand was gepostet hat, folgen andere, denen Ähnliches passiert ist.“

Hollaback definiert Street Harassment als „genderbasierte und sexualisierte Belästigung“. Dazu zählen auch rassistische oder homophobe Beleidigungen, oder solche, die sich auf den sozialen Status richten. Denn im Zentrum der Attacken steht nicht primär Sex, sondern Macht. „Viele fragen uns: Wie soll ich dann noch flirten“, berichtet Brilling. „Glaub’ mir: Wenn es flirten ist, merkst du den Unterschied.“

Die Belästigung erinnert die Betroffenen an die eigene Verletzlichkeit – und die Schwelle ist dabei unterschiedlich hoch: Für manche mag es sich harmlos anfühlen, „Hey Süße“ genannt zu werden. Für andere schwingt schon in diesen Worten die Drohung physischer Gewalt mit. Sie lässt sie schneller gehen, zum Handy greifen. Daraus folgt etwas, das man als „Raumverlust“ bezeichnen könnte. So wechseln laut einer Online-Studie der amerikanischen Seite stopstreetharassment.org 50 Prozent der Frauen die Straßenseite, wenn sie eine Männergruppe sehen, 40 Prozent geben an, ungern allein vor die Tür zu gehen.

Grabschen geht nicht

Eine exakte deutsche Übersetzung für Street Harassment gibt es nicht. „Ich würde alltägliche Belästigung dazu sagen“, schlägt Brilling vor. „Frauenkörper werden als öffentliches Gut behandelt, beglotzbar, anfassbar.“ Für viele Frauen ist das Normalität. Mitunter zweifeln sie selbst, ob sie das Verhalten ihres Gegenübers nicht vielleicht doch falsch interpretiert haben. Beklagen sie sich aber über übergriffiges Verhalten, wird dieses oft heruntergespielt.

Zu sexueller Belästigung am Arbeits- oder Ausbildungsplatz gibt es in Deutschland gesetzliche Regelungen. Belästigungen im öffentlichen Raum werden dagegen nur unzureichend erfasst. In der Schweiz erfüllt das Grabschen an Brust oder Po den Tatbestand der sexuellen Nötigung, in Schweden wird es mit einer Geldstrafe oder Gefängnis bis zu zwei Jahren geahndet. Hierzulande muss der Übergriff „erheblich“ sein: Eine einfache Berührung gegen den Willen der Frau zählt nicht dazu. Möglich ist eine Anzeige wegen Beleidigung. Das setzt aber nicht nur voraus, dass der Täter die Ehre der Betroffenen verletzt, sondern, dass er dies auch beabsichtigt hat. Schwer nachvollziehbar: Wer den Mittelfinger zeigt, kann wegen Beleidigung belangt werden – wer körperlich zudringlich wird, geht oft straffrei aus.

Anette Diehl vom Frauennotruf Mainz hat bei ihrer Arbeit in 25 Jahren nur eine Betroffene erlebt, die zur Polizei gegangen ist. Sie war von einem Nachbarn im Fahrstuhl an die Brust gefasst worden. Man einigte sich auf einen Vergleich, in dem der Nachbar sich entschuldigte. Katja Grieger, Geschäftsführerin des Bundesverbandes für Frauennotrufe, bemängelt, dass die Forschung zu Belästigung in Deutschland aus Budgetgründen „seit Jahren stagniere“. Die einzige Studie des Frauenministeriums von 2003 befragte über 10.000 Frauen. 58 Prozent der Befragten gaben an, in ihrem Leben mit sexueller Belästigung zu tun gehabt zu haben.

Nicht selber schuld

Was aber kann ein Online-Projekt wie Hollaback dagegen tun? „Der Name beschreibt die Grundidee“, sagt Brilling. „Holla back – zurückbrüllen.“ Es sei gelungen, durch die Postings mehr Problembewusstsein zu schaffen. Obwohl die Berliner Seite nie viel PR gemacht hat, seien Organisationen und Medien auf sie zugekommen. „Das zeigt, dass der Bedarf da ist.“ Bedarf nach Diskussion und nach Selbst-Stärkung. Denn ein einfaches Rezept gegen Street Harassment gibt es nicht: Selbstverteidigungskurse machen, Schlagfertigkeit trainieren – das kann helfen. Aber in vielen Situationen bleibt keine Möglichkeit zu reagieren. Brilling erzählt, wie ein Mann einer Freundin unter den Rock fotografierte, dann auf dem Rad wegfuhr. „Auf so etwas kannst du dich nicht vorbereiten. Das holt dich mitten aus deinem Leben raus.“

Eine der wichtigsten Botschaften von Hollaback sei deshalb, dass die Betroffenen nichts falsch gemacht haben. Erkenntnisse aus der psychologischen Traumaforschung belegen zudem, wie wichtig es nach einem belastenden Erlebnis ist, soziale Unterstützung zu erfahren. Und der eigenen Wahrnehmung zu trauen. Dass Betroffene selbst schuld seien, wenn sie belästigt werden, ist aber ein nicht totzukriegender Mythos. Das fängt bei der Annahme an, wer kurze Röcke trage, brauche sich über blöde Anmachen nicht zu wundern – und es geht bis zum Glauben an ein unbeherrschbares sexuelles Bedürfnis von Männern. Zudem wird gern behauptet, die verletzenden Kommentare seien als Kompliment aufzufassen. Eine absurde Vorstellung, findet Brilling: „Warum ist es wichtig, dass ich auf diese Art Bestätigung bekomme?“

Hollaback hat selbst mit Anfeindungen von Männern zu kämpfen. Der Vorwurf: Die Geschichten seien erfunden oder übertrieben. „Wieso sollten wir uns so was ausdenken?“, sagt Brilling. „Uns geht es nicht darum, jemanden zu denunzieren. Sondern einfach darum, bei Gewalt nicht zu schweigen.“ Die Kommentare auf die Beiträge fielen online dabei oft brutal aus. Viele posteten Sätze, die sie im Zwiegespräch nie sagen würden. „Ich habe schon gelesen: Du müsstest mal vergewaltigt werden“, erzählt Brilling. Seitdem schaue sie die „vielen Hassmails“ gar nicht mehr durch.

Das Netz biete aber auch eine Chance, ist Brilling überzeugt: Bei einem Thema wie Street Harassment, das oft als Privatsache behandelt wird, als etwas, mit dem jede allein fertig werden muss, könne gemeinsames Brüllen den Rücken stärken. Und ein bisschen öffentlichen Raum zurückgeben.

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