Im Rossija ist noch alles beim alten. In dem riesigen Hotel in Moskaus Zentrum, wo man von der Badewanne aus auf die große Kremlturmuhr sehen kann, sitzt noch auf jeder der kilometerlangen Etagengänge eine Dame, wo man Tee bekommen, sich aber auch beobachtet fühlen kann. »Es war wie früher» fand Stevan Tontic, Schriftsteller aus dem ehemaligen Jugoslawien über das Erlebnis der dritten Art in diesem Labyrinth des Gastes. Stationen wie die in Moskau waren es, die die Autoren des Literaturexpresses Europa 2000 von einer Zeitreise sprechen ließ, als sie die Erlebnisse einer Reise durch elf europäische Staaten im Sommer 2000 berichteten, die vergangenes Wochenende in Berlin zu Ende ging.
»Europe is different«. Hätte es einer 15 Millione
s einer 15 Millionen Sponsoren- und Steuergeldermark teuren Veranstaltung bedurft, um diese Binsenweisheit einer ausgewählten Gruppe von SchriftstellerInnen nahe zu bringen? Wann folgen die Züge für Hausfrauen oder Handwerker? Warum sollen die sich nicht auch ein Bild vom Europa der Differenzen machen? Natürlich ist es schön, dass der albanische Autor Fatos Kongoli auf dieser Reise zum ersten Mal Moskau mit eigenen Augen sehen konnte, jener Stadt, der er in realsozialistischen Zeiten brüderlich verbunden war, deren Sprache er sprach, ohne sie ein einziges Mal gesehen zu haben. Er pfiff auf das offizielle Programm und machte einen langen Spaziergang. Aber was hat die europäische Literatur davon, dass die Berliner Autorin Felicitas Hoppe nun ein genaueres Bild der Unterschiede der europäischen Hotelarmaturen hat? Und für manchen war Europe auch ganz schön the same. Den britischen Autor Glenn Patterson erinnerte das graue Warschau mit seinen fliegenden Händlern und tristen Straßenzügen nämlich an seine Heimatstadt Belfast. Und was Europa wirklich verbindet, fand er heraus, ist nicht die Literatur, sondern sind die Weltsprachen Fußball und popmusic.Literatur über die Grenzen hinweg zu vernetzen, ist kein ganz neuer Gedanke. Aber der steten Mühe wert. Blickte man freilich dem Unternehmen trotz aller Begeisterung der Autoren über »eine schöne Reise» schärfer auf die Visa-Papiere, entpuppte sich der vom Leiter der Pankower Literaturwerkstatt Thomas Wohlfahrt mit viel Kraft und diplomatischem Geschick aufs Gleis gesetzte Literatur-Express als Musterbeispiel aufgeblasener Event-Kultur. Blitzlichtumwittertes Händeschütteln allerorten. Nobelpreisträger, Staatspräsidenten, Kinderchöre machten ihre Aufwartung an Bahnsteigen und Rathäusern. Treppenreden wurden gehalten, symbolische Ausflüge mit allen dazugehörigen Kniefällen und Mätzchen inszeniert. In Lissabon pilgerten alle zum Pessoa-Denkmal. In Brüssel machten die Autoren eine »literarische Promenade a la Bloom» durch die Stadt und trugen schließlich im Europaparlament ihre Eindrücke zu Europa vor. In Hannover, dem Expo-Unterstützungstopp, hinterließen sie bei einem »Writers Walk of Fame» ihre Handabdrucke in Tontafeln, die dann für wohltätige Zwecke versteigert wurden. Doch der eigentliche Zweck der Reise geriet dabei gelegentlich etwas in den Hintergrund. In Paris musste man geradezu darauf bestehen, auch literarisch zu diskutieren. Zuviel Protokoll, zuwenig Literatur befand Stevan Tontic im Rückblick.Zwar fällt es bei dem Marketingdeutsch vom »paneuropäischen Medienereignis mit nachhaltiger Wirkung» samt Zielgruppenmatrix für Sponsoren, Imagetransfer und Synergieeffekten etwas schwer: aber akzeptiert man erst einmal den Mediencharakter des Literaturspektakels auf Rädern, kann man dem Unternehmen ein paar symbolische Erfolge nicht abstreiten. Wenn AutorInnen wie die 1949 im kroatischen Kutina geborene Dubravka Ugresic als Autorin für Deutschland nominiert wurde, gelang dieser Art Symbolpolitik eine andere Definition der nationalen Identitäten als bislang. Und dass Stevan Tontic vom oppositionellen serbischen Pen als jugoslawischer Vertreter vorgeschlagen werden konnte, und an Bord mit den anderen Autoren aus dem ehemaligen Tito-Reich gut zusammenarbeiten konnte, lässt für eine andere Zukunft auf dem Balkan hoffen.Wie virulent der Nationalismus in Europa noch immer ist, bekamen Autoren in den postsowjetischen Ländern zu spüren. »Ich bin Lettin von Kopf bis Fuß» bekam Stevan Tontic in Riga von einer respektierlichen alten Dame zu hören und: »Es sind zu viele Russen hier«. In jenem Baltikum, in dem viele Autoren aufgeatmet hatten, als sie nach den vielen Balalaika-Orchestern in der Militärdiktatur von Weißrussland, wo der Weg der Busse zu den Veranstaltungen auf Schritt und Tritt von der Polizei bewacht worden war, mit Free-Jazz im Bahnhof von des litauischen Vilnius begrüßt worden waren. Während den westlich geprägten Literaten jeder nationale Anspruch der Literatur fremd ist, sie am liebsten mit der Sprache die nationale Identität untergraben und unterwandern würden, setzt man im postsowjetischen Vakuum auf die nationenbildende Kraft der Literatur. »Grauenhaft, es war nicht auszuhalten!» Schaudernd erinnert sich Richard Wagner, aus Rumänien stammender Berliner Autor an die Weihestunden mit Friedenstauben vor dem Puschkin- und dem Schillerdenkmal. An dieses labile Selbstbewusstsein jedoch zu rühren, ist aber schwierig. Als auf einer Podiumsdiskussion einige Autoren Russlands Tschetschenienkrieg kritisierten, warnten selbst Russlandkritiker aus dem Osten in einem Papier, das dann im Zug zirkulierte, ein Land auszugrenzen. Doch insgesamt blieben politische Kontroversen eher unter der touristischen Oberfläche.Wohin geht die Reise mit Europa? Diese Frage hatten die Veranstalter zu Beginn des Unternehmens gestellt. Niemand wird es verwundern, wenn sie nach der Reise genauso wenig genauer zu beantworten sein wird, wie zuvor. Und ob der avisierte Reader Kursbuch Europa, ein Konvolut aus 143 Texten - jeder mitgereiste Autor liefert einen - der zur Frankfurter Buchmesse 2001 erscheinen soll, jene akribische Bestandsaufnahme der europäischen Poetik werden und reißenden Absatz finden wird, bleibt abzuwarten. So flüchtig die Eindrücke dieses rollenden literarischen Biwaks, so flüchtig waren nämlich auch die Erkenntnisse, die es über den alten Kontinent beförderte. »Short time, much programme, quick impressions, lack of loves or family. And always the dilemma: write or live?« schrieb der ungarische Autor László Garadczi am 9. Juni ins Internet-Tagebuch des Expresses. Dem Ur-Dilemma des Schreibens entging auch das Express-Unternehmen nicht. Ein paar beiläufige Blicke gingen von der Theke der »Diesel-Rhythmus-Bar» des alten DDR Schnelltriebwagens »Görlitz» in die flache polnische Landschaft auf der letzten Reiseroute von Warschau nach Berlin. Man aß, trank, diskutierte, schrieb Postkarten, überreichte sich Erinnerungsgeschenke, ging der Presse aus dem Weg. Nur die lettische Dichterin Amanda Aizpuriete saß mitten im dicksten Trubel vor dem Einlaufen in Berlin still vor einem dicken Stapel von Papieren und vermittelte jenes Bild von höchster Konzentration in der Entrücktheit, die das Klischee am Literaten liebt.Die Formel von der »Einheit in Vielfalt» und die pauschale Absage an die Globalisierung, die die Autoren schließlich in einer umstrittenen Erklärung zum Abschluss ihrer Reise auf dem Berliner Bebelplatz verlasen, erinnerte aber doch sehr an die offiziösen Phrasen, die Schriftsteller eigentlich hinterfragen sollten und vor denen sie sich, so György Konrad, in Acht nehmen sollten, wenn sie ernstgenommen werden wollen. Dass mehr Geld für europäische Übersetzungen ausgegeben werden muss, geht klar. Doch was die ominösen »Geo-poetics» sein sollen, die die Autoren gleichberechtigt den Geo-politics der Regierungen an die Seite stellen wollen, hätten wir sehr gerne gewusst. Ästhetische Impulse, so eine richtig schöne Kontroverse etwa zur europäischen Gegenwartsliteratur, gingen von dieser Reise jedenfalls nicht aus.Mehr als die Frage nach der Identität Europas hinterlässt der Literaturexpress die Frage nach der Zukunft der Literaturförderung und dem Auftreten von Literatur in der Öffentlichkeit. Da grassiert trotz der werbebewussten neuen deutschen Jung-, Pop- und Clubliteraten immer noch das Klischee des einsamen Poeten, der in holzgetäfelten Literaturhäusern still seine vertrackten Versbahnen zieht. Doch wenn ein Literaturprojekt für mehrere Wochen diese Medienaufmerksamkeit auf sich zieht und zum Abschlussfest 80.000 Menschen in den Bahnhof Friedrichstrasse und auf den Berliner Bebelplatz zieht, auf dem im Mai 1933 die Nationalsozialisten Bücher verbrannten, zeichnen sich neue Dimensionen ab. Claus Peymann, Chef des Berliner BE nutzte die Chance und usurpierte den abendlichen Empfangs der Heimkehrer am Schiffbauerdamm, um für sein Haus, um das es vergleichsweise windstill geworden ist, zu werben. Der lässige Gleichmut, mit dem Thomas Wohlfahrt, nie um eine griffige Formel für sein Projekt verlegen, vier Wochen lang mit der europäischen Kulturprominenz jonglierte und vor sein Pilotprojekt spannte, demonstriert ein anderes Selbstbewusstsein von Literaturmachern und ihren Ansprüchen an die gesellschaftliche Wirkung und Stellung. Die selbstverständliche Internationalität, der Einsatz der Medien, das Performative des ganzen Unternehmens - das Projekt Literaturexpress Europa 2000 spiegelte bereits die Umrisse einer anderen Literaturarbeit der Zukunft. Mit großen Augen und leicht verbissener Freundlichkeit schlichen die Leiter der restlichen Berliner Literaturhäuser beim »Weltklang der Poesie«, einer internationalen Lyriknacht mit Dichtern wie dem pathetischen Syrer Adonis bis zur schwarzen »Spoken-Word»-Poetin Patricia Smith aus Chicago mitten auf dem belebtesten Teil des Potsdamer Platzes zwischen Cinemaxx und Weinhaus Huth um die weiße Bühne, die einem TV-Musikkanal alle Ehre gemacht hätte. Man kann das als Drang zur neuen Mitte denunzieren. Aber man muss es erst einmal nachmachen: Volker Braun zwischen die steil aufragenden Flaggschiffe der Global Players zu bekommen, wo er sein Lagerfeld-Gedicht intonieren und im Mekka der neuen urbanen Unterhaltungskultur trotzig: »Warum soll ich Mode werden in der Wegwerfgesellschaft...Salute Barbaren» ausrufen konnte.Nach diesem Erfolg hat Thomas Wohlfahrt erst einmal gute Karten, wenn in Berlin demnächst um die Zukunft der Berliner Literaturhäuser gepokert wird. Das europäische Netzwerk, dass er zusammen mit seinen Autoren einen Tag nach der Reise gründete, soll wohl den Nukleus einer ganz neuen Institution zur Literaturvermittlung abgeben. Die Intimität besinnlicherer Vermittlungsformen von Literatur wird es nicht überflüssig machen. Nicht jede Literaturveranstaltung muss in Zukunft von Kulturagenten mit Freisprechanlagen um den Schädel abgewickelt werden. Und das Netzwerk wird um so nachahmenswerter sein, wenn es beweist, dass es nicht nur der kulturpolitischen Selbstbeförderung dient, sondern dass dem großen Spektakel nun auch ein paar spektakuläre Inhalte folgen - schreiben statt reisen.
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