Schrottreif währt am längsten

Mehr Süden wagen Über Fahrradbastler inmitten von Mailänder Skyscrapern
Ausgabe 08/2018
Für ein neues Fahrrad reicht das Geld bei vielen Mailändern nicht
Für ein neues Fahrrad reicht das Geld bei vielen Mailändern nicht

Foto: Vittorio Zunino Celotto/Getty Images

Es ist Samstagvormittag. Im Isola-Viertel, nordwestlich des Mailänder Zentrums, ist wie immer viel los, der hiesige Wochenmarkt ist einer der beliebtesten der Stadt.

Auch in der nahen Werkstatt „+BC“, ausgesprochen „più bici“ – „mehr Fahrrad“ – geht es schon rege zu. Auf einer der Werkbänke hantiert ein junger Mann mit einer rostigen Fahrradkette, auf der anderen versucht eine Frau, ihr Hinterrad aufzuschrauben. Der Mann trägt die Windjacke eines Lieferdienstes.

„Für diese Jungs sind wir fast schon so etwas wie eine Selbsthilfegruppe“, erzählt Adriano, Mitte 60, mit weißem Haar, weißem Bart und orangefarbenem Blaumann. Er ist einer der Verantwortlichen der Werkstatt. „Bei uns können sie ihr Rad umsonst reparieren. Was die meisten auch dringend nötig haben, viele sind aus dritter, vierter Hand, eigentlich schon schrottreif. Nur: Für ein neues reicht das Geld nicht.“ Afzal, ein Student aus dem Iran, nickt. 500 Euro im Monat verdient er, wenn er kräftig in die Pedale tritt. Umso dankbarer ist er, dass er hier das nötige Werkzeug findet und auch noch jemanden zum Quatschen. Er ist fast jeden Samstag hier.

Geöffnet ist die Fahrradwerkstatt zwei Mal pro Woche, am Mittwochabend und Samstag ganztags. „Genau genommen gibt es uns seit eh und je, jetzt sind wir aber so etwas wie ein Fremdkörper inmitten dieses Skyscraper-Viertels geworden“, sagt Adriano und zeigt auf die Wolkenkratzer, die das flache, Kubus-ähnliche Gebäude, in dem sich +BC befindet, einkesseln.

Das war noch vor 20 Jahren ganz anders. Isola war früher ein Arbeiterviertel. Dort, wo jetzt der mehrfach ausgezeichnete „Bosco Verticale“, der senkrechte Wald, mit seinen begrünten Zwillingshochhäusern in den Himmel ragt, befand sich eine seit Mitte der 1960er leer stehende Fabrik, „la Stecca“. In den 1980ern wurde sie von der Gemeinde saniert und Handwerkern zur Verfügung gestellt. Mit den Wolkenkratzern war es aber dann auch um die „Stecca“ geschehen. Ein Junge, keine 16 Jahre alt, fragt nach Adriano. Er soll für einen Fahrradboten einspringen, hat aber selbst keinen Drahtesel. Adriano weiß Bescheid und hat schon ein Rad bereitgestellt, das allerdings auch nicht wirklich fabrikneu ist. „Ab und zu kommt jemand vorbei und lässt uns eins zum Verschenken da“, erklärt er. Mittlerweile ist es 13 Uhr geworden. Jemand setzt einen großen Topf mit Wasser für die Spaghetti auf. „Wer Samstagmittag gerade da ist, der isst gleich mit“, sagt Rocco, um die 25 Jahre alt. Von Beruf ist er Grafiker, aber Fahrräder waren schon immer seine Leidenschaft. Wenn sich jemand besonders ungeschickt anstellt, legt er gerne selbst Hand mit an. „Helfen kann man immer, die Hausregel ist aber, dass sich jeder sein Rad selber richtet“, stellt Adriano klar. „Denn natürlich geht es hier um Recycling – und ums Sparen. Aber nicht nur. Viele meinen, selber nichts mehr reparieren und bestimmen zu können. Wenn ein Computer den Geist aufgibt, sind wir machtlos und geraten in Panik. Bei uns kann man um Rat bitten und, noch wichtiger, sich beweisen, dass man mit den eigenen Händen doch noch etwas auf die Reihe bringt“.

Andrea Affaticati lebt in Mailand und arbeitet als Autorin für italienische und deutsche Medien

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