Schubert auf Lesbos

Griechenland Ein Festival für Kammermusik im Krisengebiet? Zu Besuch auf einer Insel, die bange einen Neubeginn ersehnt
Ausgabe 35/2021

Prometheus’ Angriff auf die Mächtigen klingt aus der Kehle des Tenors Julian Prégardien eine Spur zu edel: „Bedecke deinen Himmel, Zeus, mit Wolkendunst und übe, dem Knaben gleich, der Disteln köpft, an Eichen dich und Bergeshöhen.“ Aber selbst wenn sich der Himmel über Molyvos unbeeindruckt wolkenlos zeigt, Prégardiens klare und schöne Stimme setzt sich gegen eine Lastwagenhupe und Hundegebell durch, überwindet Tellerklappern, Möwengeschrei und trägt die Freiheitsbotschaft des antiken Rebellen an die voll besetzten Tische der Hafenkneipen.

Mit Prometheus, dem antiken Punk, Idol des Sturm und Drang, der die Götter hinters Licht führt, um es den Menschen zu bringen, und ihnen damit Unabhängigkeit schenkt, startet das Molyvos-Festival in der Mittagshitze des 16. August in seine siebte Ausgabe. Unter dem Motto „Freiheit“ stehen die diesjährigen Konzerte. 200 Jahre Unabhängigkeit sind der historische Anlass, 1821 begann der blutige Krieg gegen 400 Jahre türkische Unterdrückung.

Die Sonne brennt auf den Hafenplatz, wo Kraken-Fangarme auf langen Schnüren im Wind trocknen. Gekocht in einer Sauce aus Ouzo, Zitrone und frischen Kräutern sind sie die Spezialität des Ortes. Molyvos auf der Insel Lesbos liegt nur fünf Seemeilen vom türkischen Festland entfernt. Überall im Dorf trifft man auf die Überbleibsel türkischer Herrschaft. Das zerstörte Minarett der ehemaligen Moschee, die heute als Gemeindezentrum dient, ein alter Hamam, der als Restaurant bewirtschaftet wird.

Auch die unverputzten Steinhäuser am Hafen mit ihren auffälligen Dachbalken und Balkonen wurden einst von Türken erbaut. Heute werfen sie Goethes Verse, beflügelt von Schuberts Melodie, weit übers Meer. Ob die Künstler in Erdoğans Gefängnissen sie hören? Oder die Flüchtlinge ein paar Kilometer weiter im Lager Kara Tepe, das vergangenen Sommer nach der Zerstörung des Lagers Moria errichtet wurde?

Warum veranstaltet man ein klassisches Kammermusikfestival im Krisengebiet? Immer wieder hören die Initiatorinnen Danae (29) und Kiveli (26) Dörken diese Frage. „Warum nicht?“, kontert Kiveli. Die Töchter einer Griechin und eines Deutschen sind in Wuppertal geboren, heute leben die beiden Pianistinnen in Berlin. Zugegeben, der Impuls vor sieben Jahren sei kein politischer gewesen, sagt Kiveli Dörken. „Doch ‚Freiheit‘ kann man von Anfang an als Untertitel lesen.“ Zunächst ging es um die Freiheit des musikalischen Ausdrucks, „wir wollten an den Sehnsuchtsort unserer Kindheit, den Geburtsort unserer Großmutter die Musik bringen, die wir so sehr lieben und in Deutschland studierten, die aber auf Lesbos immer noch unbekannt ist“, ergänzt Danae. Dass ihr Festival auf dem Höhepunkt der Finanzkrise auch zwischen Flüchtlingsboote geriet, konnten sie damals nicht absehen. Auch nicht, dass die geliebte Insel seitdem nur mehr als Krisenhotspot wahrgenommen wird. Inzwischen gehen sie bewusst damit um, wollen die Außenwahrnehmung der Insel ändern.

Das Publikum steht und weint

Vor sieben Jahren konnten sie Geflüchtete noch zu den Konzerten einladen, erzählt Kiveli. Einen ihrer „Musical Moments“ veranstalteten sie im Lager Moria. Heute sei so etwas nicht mehr möglich. Zu viele bürokratische Hürden, die den Enthusiasmus ausbremsen. Die Geflüchteten dürfen das Lager zwar verlassen, um bei Lidl einzukaufen – in die Konzerte kommen sie trotz Bemühungen der Gründerinnen nicht.

Im Griechischen setzt sich das Wort „Freiheit“ aus zwei Bedeutungen zusammen, „vorangehen“ und „lieben“. Freiheit sei „die Fähigkeit, bewusst zu verfolgen, was unser Herz sich wünscht“, erklären Danae und Kiveli in ihrer Anmoderation am Abend. Statt wie in den Jahren zuvor in der byzantinischen Zitadelle finden die vier Hauptkonzerte diesmal auf einem Sportplatz statt. Wegen Restaurierungsarbeiten. Basketballkörbe ragen zwischen den Zuschauerreihen aus weißen Plastikstühlen, die Tore wurden abgeschraubt, eine große Bühne aufgebaut. Przemyslaw Pujanek und Eivind Ringstad, zwei junge Bratschisten aus Polen und Norwegen, spielen ein Duett von Wilhelm Friedemann Bach. Fein und zart gewebte Musik, man hört das Zittern der Bogenhaare. Darauf die Ouvertüre aus Beethovens Ballettmusik Geschöpfe des Prometheus – für das Festival wurde sie als Kammerversion für zwei Violinen, Viola, Cello, Kontrabass, Klarinette und Fagott arrangiert. Mit einem scharfen Sekundakkord setzt sie ein, Prometheus’ Funke, ein unaufgelöstes Signal, das die Erwartung auf das Kommende erhöht.

Viele Freiheitsmelodien wurden für das Festival ausgegraben, neu arrangiert, sogar frisch komponiert. Musik, die nicht nur den griechischen Freiheitskampf illustriert, wie der erste Satz Revolution aus Nikos Astrinidis Symphonie 1821. Ein Werk, das man selten in Konzertsälen hört. In Molyvos wird es zum musikalisch-emotionalen Höhepunkt in der ehemaligen Moschee. Neun junge Musiker, darunter Kiveli Dörken am Klavier, musizieren vor der alten Mihrab. Ein unerbittliches Ostinato hält die Einzelstimmen, ihre melodischen Ausbrüche, zusammen, die sich am Ende in einem Auferstehungshymnus entladen. Julian Prégardien singt ihn auf Griechisch – aus voller Kehle! Das Publikum ist aufgestanden, weint. So vielen spreche das aus der Seele, sagt mir ein Zuhörer. Die letzten Jahre – Flüchtlingskrise, Corona – lägen noch wie ein Trauma über der Insel. Nun will man endlich den Neubeginn feiern.

Lito Dakou, Danaes und Kivelis Mutter, zeigt uns einen Pinienhain außerhalb des Dorfes. Ihr Großvater hat ihn vor bald 100 Jahren gepflanzt. Durch die Wipfel, in denen Zikaden kreischen, sieht man das Meer glitzern, an einigen Stellen eröffnet sich der Blick auf Dorf und Burg. Lito klatscht in die Hände, das Gezirpe erstirbt. Eigentlich wollten sie hierher mit ihren Konzerten ausweichen, erklärt sie. Der alte Hain, die grüne Lunge des Ortes, schien ideal. Doch zwei Tage vor der Eröffnung die Absage. Sollte hier tatsächlich ein Funke überspringen, einer der mehr als Begeisterung entfacht – gerade erst habe man die Brände in Athen unter Kontrolle bekommen.

Angst vor Krawall-Bildern

Aber nicht nur vor dem nächsten Waldbrand wächst die Angst – auch vor „neuen falschen Bildern“, sagt Aphrodite Vati. Sie ist die Tourismusbeauftragte der Region. In der Lobby eines Hotels spricht sie von der medial ausgeschlachteten Misere der Insel, erinnert an Krawall-Bilder, die Inselbewohner als Faschisten stigmatisierten, von NGOs, die ihre Helfer-Infrastruktur rücksichtslos hochzogen, ohne die Menschen vor Ort einzubinden. Sie hat die Zahlen, die Menschen, ihre Schicksale im Blick: Die Haupteinnahmen wurden bis 2015 durch den Tourismus erwirtschaftet, 2016 brach der Markt zu 80 Prozent ein, Pleiten wie die von Thomas Cook und Germania taten das Übrige, Corona brachte schließlich alles zum Erliegen. Trotzdem bereicherten sich einige wenige Firmen, die für die Infrastruktur und Versorgung der Flüchtlingslager zuständig waren. Angesichts ihres Gewinns gab es bis heute keine Ausgleichszahlungen. Für all jene, die durch den eingebrochenen Tourismus ihre Existenz verloren, bitter. Von den einst 70 Direktflügen pro Woche existierten momentan nur noch sieben. Dabei sei Lesbos schon immer Durchgangsstation gewesen, sagt Vati, bereits für Menschen in prähistorischer Zeit. Die Gastfreundschaft hier ist eine besondere, tiefe. Erst der Komplettausfall an Solidarität durch die EU brachte sie ins Wanken.

Vor dem vorletzten Konzert spricht der deutsche Botschafter nach einem Besuch im Flüchtlingslager Kara Tepe. Lauwarme Phrasen von der einenden Kraft der Musik. Angesichts des mitreißenden Spiels und des Gesangs auf der Bühne lassen sie einen ratlos und kalt.

2015 waren die Strände übersät von weggeworfenen Überlebenswesten. Ein ansässiger Künstler hat daraus kleine Boote gebastelt. Noch heute verkauft er sie als Souvenir. Jetzt fürchten sie auf der Insel neue Boote aus Afghanistan.

Die Molyvos-Familie wächst stetig. Angehörige, Freunde, aufstrebende Künstler aus allen Erdteilen, die in irgendeiner Weise mit Kiveli und Danae Dörken verbunden sind oder es spätestens nach dem ersten gemeinsamen Musizieren sein werden – eine Energie- und Freude-beladene Gemeinschaft, der man nicht nur auf der Bühne gerne zuhört. „Revolution beginnt immer in der Musik – damit ist sie der Politik voraus“, sagt Kiveli. Eine Dorfbewohnerin hat Lito Dakou einen Brief überreicht, in dem sie das perfekte Griechisch des deutschen Tenors Julian Prégardien lobt. Den August würde sie nun Juli nennen, dem Sänger zu Ehren. Julian, der blonde Grieche.

Am Strand von Eftalou ist der Dichter Argyris Eftaliotis (1849 – 1923) begraben. Er übersetzte einst Homers Odyssee ins Neugriechische. Er schrieb: „Du musst Dunkelheit spüren, um das Licht zu lieben.“

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