A–Z Strafe Kleines Panoptikum zum Thema Strafe: Zu Ehren jener Frau, die sich in Ohio wegen eines Verkehrvergehens mit einem "Idiotin"-Schild an die Straße stellen musste
Adam und Eva Irgendwann war Gott von den Menschen so enttäuscht, dass er die Reset-Taste drückte. „Ich will den Menschen, den ich erschaffen habe, vom Erdboden vertilgen“, wird er in der Genesis zitiert. Nur Noah blieb vom Amoklauf dieses Herrschers verschont, der nicht nur einen Riesenzorn auf die Menschheit hatte, sondern auch auf sich, weil seine Schöpfung von vorne bis hinten Pfusch war. Das fing schon im Garten Eden an. Gott vertrieb Adam und Eva wegen eines an sich harmlosen Mundraubs aus dem Paradies – Strafe muss sein! – und schrieb ihnen und ihren Nachkommen den Tod in die DNA. Eine harte Entscheidung. Wer so ein Vater ist, muss sich nicht wundern, wenn die Kinder nicht besser werden. Bibelleser mögen einwenden, der strafende Gott sei i
mögen einwenden, der strafende Gott sei im Neuen Testament durch den barmherzigen Gott abgelöst. Das sah Jesus, als er am Kreuz hing, aber womöglich anders. Mark StöhrIIsraelischer Kindergarten Strafe demotiviert. Das belegt die in der sozialwissenschaftlichen Forschung mittlerweile ziemlich bekannte Geschichte eines israelischen Kindergartens. Eltern, die ihre Kinder am Ende der Betreuungszeit immer wieder zu spät abholten und so die Erzieher zwangen, Überstunden zu machen, wurde zur Abschreckung eine Geldstrafe auferlegt. Das unerwartete Resultat: Der Anteil der Zuspätabholer stieg beträchtlich. Und sank auch nicht, nachdem die Geldstrafe wieder abgeschafft worden war. Explizite Strafen sind oft weniger wirksam als eher unscharf definierte moralische Übereinkünfte. Der Grund: Strafen kann man sich entscheiden, zu zahlen – wie eine Steuer. Für nur moralisch zu beanstandendes Verhalten gibt es diese Option nicht. Und noch etwas lehrt der Fall: Der Wechsel von einem System, das auf Kooperation ohne explizite Strafandrohungen beruht, zu einem System, das von Kontrolle und Sanktionen gesteuert wird, ist unumkehrbar. Ist der Preis für die Regelverletzung erst einmal bekannt, so ist dieses Wissen nicht wieder aus der Welt zu schaffen. Ralf GrötkerKKarten Es heißt ja, der Sport folge seinen eigenen Gesetzen. Jenseits dieser Romantik gibt es aber auch hier trockenes Paragrafen-Regelwerk. Um Verstöße gegen die Regeln zu ahnden, sind im Mannschaftssport Karten eine beliebte Art zu strafen: gelbe, rote, in mancher Sportart sogar grüne Karten. Peinlich genau ist der Einsatz dieser Sanktionen festgelegt. Von einem bedauernswerten Schiedsrichter – eben auch nur ein Mensch – verhängt, gibt es trotzdem wohl kaum eine Strafe, die so oft und von so vielen Menschen für fundamental falsch und ungerecht erachtet wird. Natürlich sind Karten eher harmlos, keiner leidet wirklich unter ihnen. Manch überspannter Kicker freut sich ja vielleicht sogar, mal drei Spiele zu pausieren. Vielleicht ist das auch der Grund dafür, dass vor allem in den Fußballstadien so ungeniert und aufgebracht wie fast nirgendwo sonst nach Strafen geschrien wird. Davon kann man halten was man will, das Spiel erhitzt die Gemüter so jedenfalls noch mehr. Benjamin KnödlerLLager Als Anfang Oktober im Prozess gegen die Sängerinnen der Polit-Punkband Pussy Riot das Urteil gesprochen wurde, war der Begriff wieder in aller Welt: Zwei Jahre Haft für zwei der drei Sängerinnen – im Straflager. Albtraumhafte Bilder tauchen auf, das innere Auge sieht zugige Bretterverschläge in lebensfeindlichen Landstrichen, Massenschlafsäle, Zählappelle, ausgemergelte Körper, Akkordarbeit. Straflager sind Anstalten zur Vernichtung des Willens und der Würde. Es gab sie zu allen Zeiten, ob bei den Nazis oder den Sowjets, es gibt sie in Nordkorea oder auch – als juristische und moralische Bankrotterklärung des Westens – in Guantánamo. Die mythologische Ur-Konstruktion eines Ortes, an dem das Leben die Strafe ist und nicht der Tod, ist der Tartaros unter dem Hades: der Gulag der griechischen Unterwelt. Die Häftlinge mussten dort drei Arten von Grausamkeiten ertragen: die Tantalosqualen, die Sisyphosarbeit und das Fass ohne Boden. Das Strafmaß: nicht weniger als die Ewigkeit. MSLiebesentzug Was bei Aristophanes’ Lysistrata noch als leichte Komödie daherkommt – in der Frauen zwei kriegführender Städte durch kollektiven Liebesentzug erreichen, dass ihre Männer endlich Frieden schließen –, kann im wirklichen Leben nervenaufreibend sein. Liebesentzug ist aber ein durchaus probates Mittel, ein gewünschtes Ergebnis im partnerschaftlichen Dissens zu erzielen. Gleichzeitig ist er Waffe und Werkzeug zur Manipulation, eine Machtdemonstration, die den Partner mürbe machen soll und ihn ohnmächtig, frustriert und verunsichert zurücklässt. Wenn man noch dazu eine Wohnung teilt und der Situation somit permanent ausgesetzt ist, kann das sehr belastend sein. Wer den Partner mit Nichtachtung straft, ihm Gespräche, Zärtlichkeiten und Sex verweigert, zeigt damit nicht nur seine Unfähigkeit zur Kommunikation, sondern lässt vor allem an seiner bedingungslosen Liebe zweifeln. Ein Grund, die Beziehung zu überdenken und sich gegebenenfalls zu trennen – für das eigene Selbstwertgefühl. Jutta ZeiseNNetzpranger Der Marktplatz des Mittelalters ist heute die URL. Das Ziel des alten, analogen Prangers (Halseisen, Holzpfahl) wie des neuen virtuellen ist dasselbe: die öffentliche Schande und Suspendierung des Angeprangerten aus der Gesellschaft. Während sich hierzulande der Netzpranger noch im Großen und Ganzen auf die Nennung von Schmuddelimbissen beschränkt, ist in den USA die Online-Bloßstellung Alltag. Insbesondere aus der Haft entlassene Sexualstraftäter sind dort mit Bild und Adresse zu finden und können deshalb ihre Hoffnungen auf Resozialisierung begraben. Auch für Autofahrer, die betrunken aufgegriffen wurden, existiert so eine „Hall of Shame“. Seit Neuestem sogar für unartige Hunde. Hier schließt sich wieder der Kreis zum Mittelalter. Dort landeten auch Hausschweine vor Gericht (➝Tierstrafen). MSPPrügel „Ein Klaps hat noch keinem Kind geschadet.“ Noch heute klingt diese Redensart nach. Und hielt Bischof Walter Mixa die „Watsch’n“ nicht für ein unentbehrliches Erziehungsmittel? Dabei wurde die heimische Prügelstrafe in Deutschland, das „elterliche Züchtigungsrecht“, sage und schreibe bereits im Jahr 2000 abgeschafft. Da muss sich wohl doch einmal ein Wandel im geistigen Klima eingestellt haben, immerhin wurzelte die Prügel-Pädagogik in Ost und West im Kaisserreich. Leider hat sich die schädliche Wirkung der Mami-und-Vati-Gewalt immer noch nicht überall herumgesprochen. Laut einer aktuellen Forsa-Umfrage haben von 1.000 befragten Eltern 40 Prozent ihren Kindern schon einen „Klaps“ auf den Po und zehn Prozent eine Ohrfeige gegeben. Vier Prozent haben ihren Kindern „den Hintern versohlt“. Zwar hätten sie dabei ein schlechtes Gewissen. Doch diese Rechts- und Kindswillensbrechung geschehe eher aus Überforderung denn aus Überzeugung heraus. Wie beruhigend. Tobias PrüwerTTheorie Ein „Anrecht auf Grausamkeit“ nannte Friedrich Nietzsche jenes Wohlgefühl, das der Kläger über den Beklagten weit nach dem Mittelalter verspürte. Die Strafpraxis war nicht beseelt vom Gedanken, dass der Schuldige verantwortlich ist, sondern entstand aus Zorn über das Erlittene. Von einer Äquivalenz von Schaden und Schmerz ist die Praxis der Körperstrafen ausgegangen – bis sie mit der Geburt des Gefängnisses zur disziplinierenden Strafe wurde. Diesen radikalen Bruch im 19. Jahrhundert hat Michel Foucault theoretisiert wie kein Zweiter. Er sah nicht nur Fortschritt in diesem Wandel. Weder ist das Gefängnis Ausdruck von Gerechtigkeit noch von Zivilisation. Der in ihm enthaltene Wunsch nach Disziplinierung und Umformung der Bestraften nimmt für Foucault den Zwang zum Selbstzwang vorweg, den die Leistungsgesellschaft perfektionierte. Pimp your CV! Heute bestraft man sich lieber selbst, bevor es andere eventuell tun – man trägt dann ja auch ganz allein Schuld, wenn die Karriere klemmt. TPTierstrafen Die diebische Elster, der Mörderhai und das lammfromme Kind kommen nicht von ungefähr: Im europäischen Mittelalter sollen Tiere genauso wie Menschen für Vergehen strafrechtlich geahndet worden sein. Ein Stier, der im 14. Jahrhundert einen Menschen verletzte, kam an den Galgen. Löste er im 18. Jahrhundert eine Seuche aus, wurde er lebendig begraben. Einem Schwein, das ein Kind tötete, drohte ebenfalls der Galgen. Heuschrecken, die die Ernte zerstörten, wurden in Frankreich um 1516 verbannt. Tatsächlich handelt es sich dabei um Einzelfälle, vor allem in Frankreich und der Schweiz, die in keinem größeren Zusammenhang standen und die wohl historisch, wenngleich nicht juristisch belegt sind: Zwar wurden Tiere öffentlich vom Scharfrichter getötet. Meistens allerdings ohne Strafverfahren gegen das Tier als „Täter“. Die vermeintlichen Urteile sind also vielmehr als Ratschläge denn als Rechtsurteile zu verstehen. Gina BucherVVergleich Neulich auf dem Arbeitsweg: Bei einer Baustelle fordert ein Schild uns Radfahrer auf, abzusteigen und auf den Bürgersteig auszuweichen. Also schiebe ich das Rad. Als ich kurz stehen bleibe, klingelt eine Frau, weiter auf ihrem Rad fahrend, hektisch. Ich verweise auf das Schild (und weiche nicht aus). Sie schimpft mich einen „Nazi-Hausmeister“. Ich zeige ihr den Vogel, während sie mich überholt. Vor lauter Aufregung steige ich selbst auf das Rad, fahre ihr auf dem Bürgersteig nach und denke: Sag’ doch wenigstens Blockwart, du ungebildete Kuh (man denkt leider so). Ich hasse rücksichtslose Radfahrer, will, dass sie bestraft werden. Alle. Schnitt. Bei der Arbeit lese ich, wie in Ohio eine Frau für ein Verkehrsvergehen sehr, sehr übel bestraft wurde. Sie war mit ihrem Auto einem haltenden Schulbus über den Bürgersteig ausgewichen, nun muss sie sich zur Strafe mit einem Schild am Hals morgens an jene Kreuzung stellen: „Nur eine Idiotin fährt über den Bürgersteig, um einem Schulbus auszuweichen.“ Wie unter den Nazis, denke ich. Ungeheuerlich. Die Meldung ist aber echt. Richtige und falsche Nazivergleiche, richtige und falsche Strafen, muss alles neu durchdacht werden. Der Hass auf die Kampfradler bleibt. Michael AngeleZZelle Immer hatte ich die CDs, die unter meiner Jacke steckten, routinemäßig entsichert. Diesmal ging der Klebestreifen schwer ab, doch ich hielt mich für unbesiegbar. Cool passierte ich die Kasse im Untergeschoss und träumte vom Date inklusive Musik von Nirvana – Unplugged in New York. Am Ausgang piepste es. Ich rannte los, gefolgt von zwei Security-Männern. Einer packte mich und zückte sofort Handschellen: „Fluchtgefahr“, erklärte er ernst. Kurz darauf saß ich in einem Mannschaftswagen der Polizei. Der stoppte vor einem Ziegelbau, den ich aus Schulbüchern kannte: das Gefängnis Moabit! Ernst Thälmann, Rosa Luxemburg. Und jetzt ich. Fahndungsfoto, Fingerabdrücke, in die Zelle, Einzelhaft. Es roch verstaubt, die Decke auf der Pritsche war zerlöchert. So sah es also aus, damals – bei Rosa? Es vergingen ein paar Stunden, vielleicht auch Minuten, ich fühlte mich ziemlich erhaben. Die Kommunisten wollten das System revolutionieren, ich hatte den Kapitalismus beklaut. Wenn auch zum letzten Mal. Mona Stein
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