Schupp mir die Worthaut ab

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Urs Allemann
Alkäisch die sechste

Du regnetest. Ich kroch in ein altes Buch.
Der Scheibenwischer wehte davon. Die Welt
war immer der schwarze Quader
um mich aus Stimmen gepresst der Backstein.

Ich las ja nicht. Ich wurde gelesen. Du
rannst schön an mir herunter. Wir starben nicht.
Als ich mich in den Seiten löste
gab es dich wieder. Erinnerungen.

Mein Opa kannte Wörter wie Synthesis.
Es ist nicht wahr. Er drückte den Kinderkopf
mit Fingern die mit dem Wort Finger
ich zu bezeichnen von ihm gelernt hab.

Du regnest nicht mehr. Bö, ich verstecke mich.
Schlaf du mich, Boa. Schupp mir die Worthaut ab.
Es ist nichts drunter. Das Wort Wunde
schluckt das Wort Wunder. Da. Vogelscheisse.

Im täglichen journalistischen Umgang mit der Sprache des Alltags, so hat Urs Allemann einmal gesagt, befalle ihn ein "ganz starkes Derealisierungsgefühl". Ein sprachskeptisches Unbehagen an den Stereotypen der geläufigen Rede wirkt denn auch als Antriebsenergie in den Oden und Elegien fort, die Allemann nach langer Schreibpause in diesem Frühjahr veröffentlichte. Nach langer Suche hatte er endlich eine probate Form gefunden, die dem gefährlichen Eigensog der Sprache Widerstand bot. Er fand sie in der strengsten antiken Gedichtform überhaupt: der Ode mit ihren metrisch genau festgelegten Zahl von betonten und unbetonten Silben in den jeweils vierzeiligen Strophen.
Bis in die neunziger Jahre hinein galt ja die Anverwandlung antiker Formen als Inbegriff lyrischer Rückständigkeit. Nur wenige hatten die Worte des Dichters Ludwig Greve im Ohr, der bereits 1979 plausibel dargelegt hatte, dass das lyrische Sprechen in einer streng geregelten Form zur Präzision zwingt. "Andere", so Greve damals, "suchen Halt in einer Gruppe oder Überzeugung, ich fand ihn in der alten, immer neu zu gewinnenden Form der Ode." Zu diesem Zeitpunkt schienen die Möglichkeiten der Ode längst erschöpft. Hölderlin hatte die alkäische und asklepiadeische Odenstrophe zur Vollendung geführt, im 20. Jahrhundert lieferten Dichter wie Rudolf Alexander Schröder und Josef Weinheber fast nur noch epigonale Reprisen dieser Gedichtform.
Urs Allemann erprobt nun eine motivische Erweiterung und formale Radikalisierung der antiken Form, indem er Bilder der Gewalt und Metaphern des Zerreißens und Schneidens in die Ode einführt, die dort bislang kaum Platz gefunden hatten. Hier konstituiert sich nicht eine Sprache der "ständigen Entzückung", wie sie die traditionelle Lyriktheorie für die Ode vorsieht, sondern eine fragmentarische Sprache der Verstörung und der Glossolalie, die schmerzhafte Einschnitte an Körpern und am Sprachmaterial selbst thematisiert. Die Abfolge der Silben wird konsequent eingehalten, aber zugleich wird die Ode von innen her durch eine brüchige und assoziativ verschlungene Sprachbewegung aufgesprengt. Allemanns Oden sind von prekärer semantischer Instabilität, bewegen sich über Paradoxien, Unschärfen und Sinn-Verweigerungen vorwärts. Eine Identität der Subjekte kann es hier ebenso wenig geben wie eine sprachliche "Synthesis".
Schon die erste Zeile der vorliegenden alkäischen Ode versucht sich in einer grotesk erscheinenden Gegenüberstellung von Geist und Natur: Ein Ich, das sich in ein altes Buch verkriecht, trifft auf ein Du, das den Regen repräsentiert. Dieses Ich bleibt zunächst genau so unbestimmt wie die Welt aus Wörtern, in die es hineinwächst. Es scheint eingeschlossen zu sein in eine monolithische Welt vor der Ausdifferenzierung der Dinge: in den schwarzen Quader, den Backstein, in den gewalttätigen Griff des Großvaters. Zugleich steht dieses Ich ganz im Zeichen von Sprache und Schrift. Das "alte Buch" wird zum Zufluchtsort, das Ich selbst zum Gegenstand von Lektüre. Aber nie stellt sich die Einheit von Wort und Ding her, die von der Tradition gestiftete und von Kant formulierte Erfahrung der "Synthesis" hat keine Geltung mehr. Im mühevollen Prozess des Zur-Sprache-Kommens tastet sich das Ich über Klangähnlichkeiten vorwärts: über die Homophonie von "Opa" und "Boa" und den feinen Unterschied von "Wunde" und "Wunder". Überall, wo sich hier Sprache einnistet, lauert auch Gewalt: "Schupp mir die Worthaut ab." Zurück bleibt der versehrte Körper, hautlos und sprachlos.

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