Marian Schreier Die Grünen sind raus, Stuttgart steht ein heißer zweiter Oberbürgermeister-Wahlgang bevor. Hoffnungen macht sich ein 30-Jähriger mit umstrittenen Beratern
Marian Schreier gilt als „gut erzogener Junge aus gutem Hause“. Er versteht sich als progressive Mitte zwischen Links und Rechts
Foto: imago images/Lichtgut
Vier Monate vor der Landtagswahl in Baden-Württemberg schickt sich die CDU an, die Landeshauptstadt Stuttgart zurückzuerobern. Ihr Kandidat für das Amt des Stuttgarter Oberbürgermeisters ist aussichtsreichster Bewerber im zweiten Wahlgang am 29. November. Maßgeblich dafür ist die Uneinigkeit liberaler, linker und grüner Kandidierender. Im Zentrum dieses Konflikts steht der 30-jährige Marian Schreier, Drittplatzierter des ersten Wahlgangs, bei seiner Kampagne unterstützt von Personen, die in Verbindung zu einer umstrittenen Organisation aus der Schweiz standen oder stehen.
Eigentlich ist Schreier SPD-Mitglied. Die Stuttgarter SPD lehnte seine Kandidatur jedoch ab, entschied sich stattdessen für Martin Körner, den Vorsitzenden ihrer Gemei
iz standen oder stehen.Eigentlich ist Schreier SPD-Mitglied. Die Stuttgarter SPD lehnte seine Kandidatur jedoch ab, entschied sich stattdessen für Martin Körner, den Vorsitzenden ihrer Gemeinderatsfraktion, als Kandidaten. Entgegen parteipolitischer Gepflogenheiten setzte sich Schreier über den Willen seiner Partei hinweg und kandidierte trotzdem selbst als Oberbürgermeister. Im März reagierte der Landesvorstand der SPD und leitete ein Parteiausschlussverfahren gegen Schreier ein, das im August auf Vorschlag der Landesschiedskommission der Partei wieder beendet wurde. Schreier und der Landesvorstand einigten sich darauf, seine Mitgliedschaft bis zum zweiten Wahlgang ruhen zu lassen.Dieser zweite Wahlgang findet in Stuttgart als Neu-, nicht als Stichwahl statt. Kandidaten aus der ersten Runde können, müssen aber nicht zurückziehen, sogar die Anmeldung neuer Kandidaturen ist möglich, weswegen in Stuttgart manch einer schon überlegte, ob sich nicht etwa Cem Özdemir spontan zum Retter der Grünen aufschwingen würde. Deren Kandidatin für die Nachfolge Fritz Kuhns an der Stadtspitze, Veronika Kienzle, war im ersten Wahlgang nur auf 17,2 Prozent gekommen, hinter dem CDU-Kandidaten Frank Nopper (31,8 Prozent) und vor Schreier (15 Prozent) sowie dem parteilosen, langjährigen öko-sozialen Kommunalpolitiker Hannes Rockenbauch (14 Prozent). Für den SPD-Kandidaten Körner stimmten 9,8 Prozent.Kein öko-soziales BündnisGespräche zwischen Schreier, Kienzle, Rockenbauch und Körner über ein gemeinsames Vorgehen im zweiten Wahlgang, ein öko-soziales Bündnis mit gemeinsamem inhaltlichem Konsens und einem einzigen Kandidaten gegen den CDU-Mann Nopper sind inzwischen gescheitert. Rockenbauch hatte seinen Rückzug zugunsten der Grünen Kienzle angeboten. Schreier schloss selbiges aus, bestand auf seiner eigenen Kandidatur und war sich plötzlich der Unterstützung seines Parteifreundes Martin Körner sicher. Ob des schlechten Abschneidens des offiziellen SPD-Kandidaten im ersten Wahlgang stellt sich die Partei inzwischen also doch hinter ihren vor kurzem noch verstoßenen Sohn und unterstützt Schreier im zweiten Wahlgang. Aus dem Rathaus ist zu hören, Schreier habe kompromisslos agiert und sei nicht ergebnisoffen in die Gespräche gegangen. Kienzle zog zurück und gab, wie ihre Partei, keine Wahlempfehlung für den zweiten Wahlgang ab. Hannes Rockenbauch sieht in Schreier keinen Kandidaten, der das öko-soziale Lager glaubhaft vertritt, und gab bekannt, selbst ebenfalls erneut im zweiten Wahlgang anzutreten. Am 29. November kämpfen folglich CDU-Mann Nopper sowie die beiden Parteilosen Schreier und Rockenbauch um das Amt des Stuttgarter Oberbürgermeisters.Marian Schreier, der zuletzt mit umstrittenem „Guerilla-Marketing“ auf sich aufmerksam zu machen versucht hatte, kann beim Kampf um die Stadtspitze auf ein vergleichsweise üppiges Wahlkampfbudget zurückgreifen, es liegt nach eigenen Angaben (hier ab ca. 1:49:00) bei bis zu 200.000 Euro. Per Crowdfunding waren zuletzt mehr als 90.000 Euro an Spenden zusammengekommen, den Rest steuert er laut eigener Aussage aus eigener Tasche bei. Der Erfolg Schreiers, der stets stolz hervorhebt, ganz ohne die Unterstützung eines Parteiapparats angetreten zu sein, ist vor dem Hintergrund solcher Zahlen kaum überraschend. Schließlich liegt sein Budget mindestens auf Augenhöhe mit den finanziellen Mitteln von SPD und Grünen und in etwa doppelt so hoch wie das Budget des parteilosen Mitbewerbers und Stuttgart-21-Kritiker Hannes Rockenbauch (Angaben zu den Finanzierungen der Kandidierenden der ersten Runde unter diesem Link ab ca. 1:44:00). Letzterer stellte im Wahlkampf vor laufender Kamera die Frage, wie Schreier im Alter von nur 30 Jahren 100.000 Euro privat in die Hand nehmen könne. Schreiers Antwort: Er arbeite seit fast acht Jahren und da sei es möglich, Geld zur Seite zulegen.Fünf der besagten knapp acht Jahre war Schreier als Oberbürgermeister von Tengen im Landkreis Konstanz tätig. 2015 war er mit gerade einmal 25 Jahren zum jüngsten Bürgermeister der Bundesrepublik gewählt worden. Schon damals trat er trotz SPD-Mitgliedschaft als parteiloser Kandidat an. Er überzeugte dennoch rund 71 Prozent der Wähler in der 4.500-Einwohner-Stadt nahe der Schweizer Grenze.„Operation Libero“Schreiers Nähe zur Schweiz ist nicht nur geographischer Natur. Leiter seiner Kampagne für die OB-Wahl in Stuttgart ist David Schärer, „Publicity-Spezialist“ und einer der Gründungspartner der schweizerischen Kommunikationsagentur Rod. Nach Informationen des Singener Wochenblatts ist auch Laura Zimmermann Teil von Schreiers Wahlkampfteam. Die 29-Jährige ist ebenfalls für Rod tätig und zugleich Co-Präsidentin des umstrittenen Schweizer Vereins Operation Libero, dem in der Vergangenheit auch David Schärer vorstand. In Marian Schreiers vierköpfigem Beratergremium sitzen zwei weitere Schweizer: Elmar Schnee, ehemaliger Vorstand der Pharmasparte des Dax-Konzerns Merck, und Tim Guldimann, ehemaliger Abgeordneter des Schweizer Nationalrats und 2010 bis 2015 Schweizer Botschafter in Berlin. Guldimann ist nach eigenen Angaben „mit innenpolitischen Aktivitäten im Kontakt mit der Operation Libero“.Offensichtlich sind also die personellen Überschneidungen zwischen Schreiers Team, der Agentur Rod und Operation Libero. Von Seiten letzterer heißt es: „Operation Libero hat nicht im Geringsten etwas mit dem Wahlkampf von Marian Schreier zu tun.“ Schreier selbst erklärte auf Twitter: „Ich werde weder finanziell noch organisatorisch noch sonst wie (z.B. inhaltlich) von einer Partei und weder finanziell noch organisatorisch noch sonst wie (z.B. inhaltlich) von der Organisation Libero unterstützt. Es gibt keinerlei Vereinbarung zwischen der Operation Libero und mir.“Vereinbarungen zwischen der Operation Libero und bei Wahlen antretenden Kandidaten und Kandidatinnen hatten zuletzt in der Schweiz für Aufsehen gesorgt. Der Verein hat sich dort in den vergangenen Jahren einen Namen gemacht, indem er erfolgreich gegen mehrere Volksinitiativen mobilisiert hat, die die rechtspopulistische SVP vorangetrieben hatte. Umstritten ist die Operation Libero jedoch spätestens seit dem vergangenen Jahr. Schweizer Journalisten fanden heraus, dass sie neuerdings versucht, mit der finanziellen Unterstützung für einzelne Politiker die politischen Mehrheitsverhältnisse im Parlament zu verschieben, daran beteiligt waren die nun im Dunstkreis Schreiers auftauchenden Laura Zimmermann und Tim Guldimann, wie die Schweizer Wochenzeitung WOZ berichtete. Der Verein tritt dabei gezielt an zahlreiche Kandidaten verschiedenster Parteien heran und stellt ihnen die Finanzierung einer Wahlkampagne in Aussicht. Als Gegenleistung wurde von den Politikern verlangt, dass sie sich schriftlich zu den vorformulierten Positionen der Operation Libero bekennen. Die Zustimmung wird vom Verein als „verbindliche Grundlage für die Unterstützung der Kandidierenden“ verstanden, weshalb der Verdacht aufkam, die Operation Libero kaufe Politiker für ihre Zwecke und handele womöglich gar verfassungswidrig. Die Politiker werden dazu angehalten, nicht in Parteifarben, sondern unter der Flagge der Operation Libero aufzutreten. So soll vermeintlich progressive Politik über Parteigrenzen hinweg gemacht werden.Volle Kanne LiberalismusWie ihr Name erahnen lässt, hat sich die Operation Libero programmatisch gänzlich dem Liberalismus verschrieben. Ihre Vertreter sprechen von der Schweiz stets als „Chancenland“. In wirtschaftspolitischen Fragen wird dem Verein eine Nähe zum Schweizer Wirtschaftsdachverband „Economiesuisse“ und anderen mächtigen Wirtschaftsverbänden nachgesagt.Marian Schreier versteht sich à la Emmanuel Macron als progressive Mitte zwischen Links und Rechts und damit als unabhängig „von den Entscheidungen der Vergangenheit, den alten Denkmustern, den politischen Schubladen und den ideologischen Diskussionen“. Die Operation Libero geht noch einen Schritt weiter und positioniert sich lieber gar nicht erst auf der Links-Rechts-Achse. Beides sind Spielarten eines Framings, das zurzeit in Mode ist, wenn es darum geht, vermeintlich linke Gesellschaftspolitik mit rechter Wirtschaftspolitik zu kombinieren. Dieser als progressiv geltende Cocktail entfaltet seinen vollen Geschmack bei einem Blick in die Positionspapiere der Operation Libero. Gefordert wird eine steuerliche Gleichbehandlung der verschiedensten Lebensentwürfe und ein Adoptionsrecht für Homosexuelle. Der Wohlstand soll durch Zuwanderung erhalten werden, da es unter anderem einen Bedarf „nach relativ niedrig-qualifizierten Zuwanderern“ gäbe. Außerdem sollen Geringverdiener künftig Steuergutschriften erhalten, die zur Eigenständigkeit verhelfen sollen. Die „Rundum-Verteilung“ bisheriger Sozialleistungen und Infrastruktursubventionen soll stattdessen abgeschafft werden. In diesen Forderungskatalog reihen sich auch jene Positionen ein, die die Schweizer Kandidaten unterschreiben mussten, um von Operation Libero finanziell unterstützt zu werden. Die Politiker sollen sich unter anderem für eine Erhöhung des Rentenalters starkmachen und in der Klimapolitik auf „Kostenwahrheit“ setzen. Letzteres ist ein Instrument, das an den Ausgangspunkt der Gelbwesten-Bewegung in Frankreich erinnert. Mit der höheren Besteuerung fossiler Kraftstoffe wollte Macron vor allem die ärmeren Menschen die Kosten der Energiewende spüren lassen.Die politischen Ziele der Operation Libero passen zum Herkunftsmilieu ihrer Mitglieder. Man sagt der Bewegung nach, sie sei sehr homogen und bestehe überwiegend aus privilegierten Akademikern, die an den Schnittstellen zwischen Staat und Wirtschaft tätig sind und aus bürgerlichen, liberalen Elternhäusern stammen.Über dieses Profil verfügt auch Marian Schreier. Er gilt als „gut erzogener Junge aus gutem Hause“, sein Weg führte über Oxford ins Berliner Büro von Peer Steinbrück und – als Hospitant – zu den Vereinten Nationen, bevor er Bürgermeister wurde und als Oberbürgermeister antrat. An diesem Wochenende wurde Schreier mutmaßlich Opfer eines Anschlags: Er veröffentlichte Bilder seines Autos, die Schäden an Seitenspiegel wie Scheibenwischer und eine mit den Worten „Zieh zurück, Karrierist Sau“ beschmierte Motorhaube zeigen.
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