Flaneure, so belehrt den Neugierigen jedes Wörterbuch über die Bedeutung des französischen Verbs "flaner", Flaneure sind Menschen, die müßig umherschlendern. Keinesfalls schreiten sie fort, denn sie streben nach keinem Ziel und kennen also auch keine Eile, es zu erreichen. Sie sind sozusagen Gegner des Fort-Schritts: zeitlich dem Gegenwärtigen verbunden, in dem das Schlendern nistet, räumlich dem Kreis, den ihnen die Vorsilbe umher zieht und der keiner bestimmten Richtung den Vorzug vor anderen gewährt. Die Flaneure des vorvergangenen Jahrhunderts stellten den räumlich-zeitlichen Hintersinn ihrer Tätigkeit sogar bewusst aus, als sie auf den Boulevards Schildkröten spazieren führten. Der eilfertige Rückschluss, all
Schwellenwesen
Spazieren gehen Ob es heute noch Flaneure geben kann, ist eine umstrittene Frage
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alle Menschen, die müßig umherschlendern, seien deshalb Flaneure, widerspräche dagegen unseren Vorstellungen von der Flanerie. In der Uckermark gibt es keine Flaneure, obwohl man dort gewiss müßig umherschlendern kann. Dagegen in Paris und in Berlin mag man sie vielleicht finden. Denn Flaneure gehören in Orte metropolitaner Urbanität und Weltläufigkeit. In der einschlägigen Literatur wird dabei zumeist unterstellt, die Flanerie sei ein historisches Phänomen, gebunden an bestimmte ästhetische und ökonomische Bedingungen städtischen Lebens im 19. Jahrhundert. Walter Benjamin erkannte den Flaneur des 19. Jahrhunderts im Sandwichman der Weltwirtschaftskrise von 1929 wieder: Die proletarisierten Umherschlendernden, die sich als lebendige Reklameschilder verdingen, um nicht verhungern zu müssen, markieren laut Benjamin die Endstation eines sozialen Verfalls, welcher der Figur des Flaneurs unter den ökonomischen Bedingungen der entfalteten kapitalistischen Warengesellschaft beschieden war. Wer demnach in den Zwanzigern in Berlin noch flanierte, der erschlenderte seiner Epoche allenfalls den Nachhall des 19. Jahrhunderts, und war eigentlich bereits überholt von den gesellschaftlichen Zeitläuften. Wie erdrückend unzeitgemäß müsste denn also die Flanerie erst recht im 21. Jahrhundert sein! So wird denn munter darüber gestritten, ob wir, wenn wir uns heute entschließen würden, auf den städtischen Straßen zu flanieren, das auch guten Gewissens noch so nennen dürften, oder ob uns die Geschichte längst das Recht dazu entzogen habe. Die Frage ist dann eben, ob und wo diese Bedingungen der Flanerie heute noch günstig sind. Im Blick auf die objektiven Faktoren wird dabei ein schlichter subjektiver meist übersehen: die Hingabe des Flanierenden an seine Stadt, und dass Flanieren vor allem die Kunst voraussetzt, spazieren zu gehen, wie Franz Hessel es nannte. Flanieren sei eine Art Lektüre der Straßen, verrät Hessel dem Leser seiner Tableaux Spazieren in Berlin, "wobei Menschengesichter, Auslagen, Schaufenster, Café-Terassen, Bahnen, Autos, Bäume zu lauter gleichberechtigten Buchstaben werden, die zusammen Worte, Sätze und Seiten eines immer neuen Buches ergeben". So können sich die Straßen einer Stadt zu Sätzen fügen, die viele verschiedene Geschichten erzählen: von dem vergangenen Leben, das man in ihr geführt hat und das noch um die Fassaden der Häuser spukt, an denen man so oft achtlos vorbeigegangen ist, bis man plötzlich ihren Blick erhascht, wie den von alten Bekannten, die man zufällig wiedertrifft; aber auch von den Abenteuern, die sich hier tagtäglich ereignen, von den vielen Leben, die man in ihr führen könnte, weil andere sie in ihr führen, oder weil die Aura der Dinge sie verheißt. Außerdem kann sich der Text dieser Stadt, den wir aus ihr herauslesen, in jeder Sekunde umschreiben. Eine Stadtrundfahrt, wie Hessel sie einmal in Berlin unternahm, bleibt diesem Reiz verschlossen, weil sie den Blick in festen Bahnen halten will. Damit die Stadt zur Lektüre werden kann, müssen Menschen und Dinge aber vor allem ihrer alltäglichen Bedeutung entkleidet werden. Wir dürfen mit ihnen nicht wie selbstverständlich umgehen, wenn sie für uns Zeichen eines aufregenden Buches werden sollen. Das Studium der menschlichen Physiognomien auf den Straßen, das schon vor 150 Jahren Victor Fournel in seiner Odyssée du Flaneur den Parisern empfahl und das Eugène Sue für seinen Bestseller Les mystères de Paris in der Pariser Halbwelt erprobte, gelingt nur dann, wenn man nicht in die Interaktion mit seinen Studienobjekten genötigt wird. Das Gleiche gilt von den Physiognomien der Gassen und Straßen, der Parks und Plätze. Ihr Zeichencharakter wäre dem verstellt, dem sie bei seinen Verrichtungen nur alltagspraktisch zuhanden sein würden. Deshalb ist der Flaneur gänzlich unpraktisch. Er steht zwischen den Menschen, nicht unter ihnen, und wie er sich aus ihren Händeln heraushält, so hält er sich recht eigentlich aus der ganzen Stadt heraus, was ihn den Werktätigen in der allgemeinen Betriebsamkeit der Städte zum Verdächtigen macht. Und den "Großstadtmädchen". Hessel notiert, dass sie sich über seine Blicke aufregen. "Nicht als ob sie überhaupt etwas dagegen hätten, angesehen zu werden. Aber dieser Zeitlupenblick des harmlosen Zuschauers enerviert sie. Sie merken, dass bei mir nichts dahinter! steckt". Die Haltung des Flaneurs ist eine genuin ästhetische. Sie dient einer Erfahrung, welche das Erfahrene nicht vorschnell konzeptualisieren, sondern es offen halten will für ein spielerisches Deutungs- und Sinnbildungsgeschehen. Geläufig ist uns das aus dem Theater, von der Kunst- oder der Naturbetrachtung.Für die Zeit dieses Geschehens, während des Flanierens, als Flaneur befindet sich das ästhetische Subjekt in einem Zustand, den der Ethnologe und Kulturwissenschaftler Victor Turner als "liminal" oder als "schwellenförmig" bezeichnet hat. Die Eigenschaften eines liminalen Zustandes oder die von Personen, die sich in ihm befinden, sind laut Turner "notwendigerweise unbestimmt, da dieser Zustand und diese Personen durch das Netz der Klassifikationen, die normalerweise Zustände und Positionen im kulturellen Raum fixieren, hindurchschlüpfen". Schwellenwesen stehen außerhalb des allgemeinen Statussystems. Trotzdem ist ihr Zustand für Turner integraler Bestandteil der Kultur. In tribalen Gesellschaften hat er die Funktion, den Übergang zwischen klar definierten sozialen Positionen eines Individuums oder einer Gruppe in ritualisierter Weise zu gewährleisten. Das ist der Fall, wenn schwangere Frauen sich Seklusionsriten unterziehen müssen, die sie in einen liminalen Zustand und Lebensraum außerhalb der Dorfgemeinschaft einweisen, worin sie bis zur Geburt des Kindes bleiben, um dann wieder in die Gemeinschaft eingegliedert zu werden. Die liminale Phase im Leben der Schwangeren dient dazu, die klar definierten und voneinander getrennt gehaltenen Zustände der unverheirateten Jungfrau und der Mutter mit den entsprechenden Statuspositionen und Rollenmustern ohne Schaden für das Ordnungssystem der Gemeinschaft zu verfugen. Für Turner muss es in solchen Fällen "eine Nahtstelle, oder, um die Metapher zu wechseln, ein - wenn auch noch so kurzes - Intervall geben, eine Schwelle (limen), an der die Vergangenheit für kurze Zeit negiert, aufgehoben oder beseitigt ist, die Zukunft aber noch nicht begonnen hat - einen Augenblick, in dem gleichsam alles im Gleichgewicht zittert". In Stammesgesellschaften lasse sich dieser Augenblick aufgrund der überwiegenden Homogenität der Werte, des Verhaltens und der sozialstrukturellen Regeln relativ leicht in Schach halten, in modernen Gesellschaften werde er dagegen freiwillig gesucht. Schwellenzustände bedeuten hier die vorübergehende Befreiung der Fähigkeiten des Menschen von den normativen Zwängen, unter denen er normalerweise steht. Was hält uns davon ab, auch den Flaneur zu Turners Schwellenkünstlern zu zählen? Flaneure bewegen sich außerhalb der sozialen Rollenbeziehungen, um aus dieser externen Perspektive die solcherart verfremdete Stadt mit einem zweiten ersten Blick sich neu zu erobern. Wie passend ist es da, dass Victor Fournel den Entdecker Christoph Columbus zu einem Vorläufer des Flaneurs kürt. Wie die Entdeckungsreise ist auch die Flanerie ein Übergangsphänomen, und zwar des Übergangs zwischen klar definierten Zuständen und Positionen des Individuums im Leben seiner Stadt. Vorübergehend vermag der Städter als Flaneur nicht nur seine Stadtwahrnehmung zu verfremden, sondern sich auf sein Leben in ihr in einer Art und Weise zu beziehen, die den grauen Routinen Innovationen möglichen Anderslebens zuführt. Wie das Alltagsleben in der Stadt den Menschen fixiert, so kann die Flanerie ihm - mit einem Worte Kierkegaards - "Möglichkeit schaffen".Daher erzeugt erst das Flanieren Urbanität. Sie ist recht eigentlich keine objektive Eigenschaft einer Stadt, sondern das Resultat einer Beziehung, die ihre Bewohner flanierend zu ihr unterhalten. Urbanität bedeutet Möglichkeitssinn inmitten der Notwendigkeiten des alltäglichen städtischen Lebens. Und doch scheinen wir den objektiven Faktoren nicht entronnen zu sein! Was, wenn den Flaneuren das Pflaster geraubt wird, auf dem sie flanieren könnten? Welches Dasein fristen sie in städtischen Agglomerationen wie dem Ruhrgebiet oder gar in Los Angeles, wo Fußgänger so selten sind, dass sie von betroffenen Krankenwagenfahrern aufgelesen werden? Nun, dort müssen sie eben ihr Schuhwerk wechseln, sie müssen sich den Bewegungsströmen anpassen und auf den endlosen Strips, welche die zentrenlosen Vorstädte zu einem Flickenteppich aus Wohn- und Gewerbegebieten verfugen, ins Auto steigen. Auch darin lässt es sich flanieren. Und wie die Flaneure des 19. Jahrhunderts in der schummrigen Gasbeleuchtung der Passagen die Schwellenzonen der Städte entdeckten, so tun das ihre modernen Nachfolger auf den Parkplätzen vor den Malls, den Schnellrestaurants und Tankstellen, abends, wenn die Neonreklamen sie in Inseln künstlichen Lichts verwandeln, die von dem Stillen Ozean der Schlafsiedlungen umspült werden; wie die alten Flaneure auf vorgezeichneten Routen die Passagen und Gehsteige auf und ab schlenderten, so lassen die jungen ihre Wagen, deren tiefer gelegte Karossen fast auf dem Boden schleifen und so jede Alltagstauglichkeit pathetisch widerlegen, untertourig über den Parcours der schnurgeraden Straßen rollen. Paris, laut Walter Benjamin die Hauptstadt des 19. Jahrhunderts, war auch die Hauptstadt der Flaneure alter Schule. Die zeitgemäßen sind dort, wo die alten Flaneure unzeitgemäß wurden, einen langen Weg gekommen. Sie stammen aus Kalifornien, sie suchen sich Straßen, deren Häusernummern in den vierstelligen Bereich emporwachsen und schlendern auf ihnen im Rhythmus überdimensionierter Bässe, auf extrabreiten Reifen und im Flammengewand der Paint-Brush-Lackierungen.Magnus Schlette ist Hochschulassistent für Religionsphilosophie an der Universität Chemnitz.
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