Konfliktforschung Politik und Diplomatie müssen sich auf Verhandlungen im Ukraine-Krieg vorbereiten. Ansonsten dürfte das Verharren in einer Eskalationslogik zu einem lang andauernden, verlustreichen Zermürbungskrieg führen
Ein halbes Jahr nach Beginn des russischen Überfalls auf die Ukraine ist kein Ende des Krieges oder gar eine dauerhafte Regelung des Konfliktes in Sicht. Militärisch hat keine der Kriegsparteien die Oberhand, und eine politisch-diplomatische Lösung zeichnet sich nicht ab. Wie geht es weiter? Besteht nach wie vor das Risiko einer Eskalation des Konfliktes, möglicherweise bis hin zum Einsatz von Atomwaffen? Oder können Verhandlungen doch zu einem Ende der Kampfhandlungen führen?
Kurz nach Beginn des Krieges wurde über den möglichen militärischen Verlauf spekuliert: Die Machthaber in Moskau (und nicht nur die) erwarteten, dass Russland aufgrund seiner militärischen Überlegenheit rasch siegen und in Kiew eine Marionettenregierung installier
installieren würde. Davon ist heute keine Rede mehr. Der Kreml ist mit seinem Versuch gescheitert, die Ukraine in einen mehrfachen Zangengriff zu nehmen und dabei auch die Hauptstadt zu erobern. Entsprechend hat der Kreml Kriegsziele verändert und konzentriert sich jetzt darauf, den Osten und Süden der Ukraine unter seine Kontrolle zu bringen. Ein zweites Szenario prognostizierte die erfolgreiche Verteidigung durch Ukrainer, die angesichts der Aggression hochmotiviert waren und westliche logistische Unterstützung und Waffenlieferungen erhielten. Dies ist bislang zumindest in Teilen gelungen. Allerdings scheint die Rückeroberung der besetzten Gebiete im Donbass, aber auch im Süden des Landes an Grenzen zu stoßen.Drittens gab es die Befürchtung, dass der Krieg horizontal über die Grenzen der Ukraine hinaus auf Nato-Gebiet eskaliert. Dies wäre zu erwarten gewesen, wenn die Nato sich mit eigenen Truppen an militärischen Kämpfen beteiligt hätte. Oder auch, wenn die russische Führung auf die Karte der Kriegsausweitung gesetzt hätte, um den Westen von der Lieferung schwerer Waffen an die Ukraine abzuhalten. Bislang ist dies nicht eingetreten, aber die Lage an der Ostgrenze der Nato ist angespannt. Mit der Verlegung von Streitkräften und Waffen in die östlichen Nato-Mitgliedsländer steigt die Gefahr von Zwischenfällen.Eng verbunden mit diesem Szenario ist viertens die Gefahr eines Atomkrieges, denn von russischer Seite wurde das „nukleare Tabu“ bewusst unterhöhlt, sprich: der Imperativ, die Finger von dieser verheerenden Option zu lassen. So hatte Präsident Wladimir Putin seine Atomstreitkräfte in erhöhte Alarmbereitschaft versetzt; und sowohl Außenminister Sergej Lawrow als auch der frühere Präsident Dmitri Medwedew spielten in ihren Äußerungen mehrfach mit der Möglichkeit, je nach Verlauf des Krieges, notfalls auch Atomwaffen einzusetzen. Dass dies glücklicherweise bislang nicht eingetreten ist, heißt nicht, dass es sich von Seiten des Kremls um einen reinen „nuklearen Bluff“ handelt. Die heutige Lage ist in ihrer Dramatik wohl nur mit der Kuba-Krise vom Oktober 1962 vergleichbar. Nicht zuletzt gibt es das Risiko einer ungewollten vertikalen Eskalation, also eines „Weltkriegs wider Willen“.Wir sind auf Stufe 7Die Stufen der Eskalationsleiter runter zu klettern, ist mit großen Schwierigkeiten verbunden. Der österreichische Ökonom und Konfliktforscher Friedrich Glasl hat vor rund vierzig Jahren eine neunstufige Eskalationsleiter entwickelt, die auch mit Erkenntnisgewinn auf den Krieg in der Ukraine angewendet werden kann. Sein Konfliktmodell reicht von Verhärtung über Polemik und Taten statt Worten bis zu Gesichtsverlust, Drohstrategien, begrenzten Vernichtungsschlägen und bis zur Katastrophe, bei der beiden der gemeinsame Abgrund droht. Militärisch befinden wir uns dabei auf Glasls Stufe 7 mit begrenzten militärischen Vernichtungsschlägen.Diese Stufe wird durch die militärischen Aktionen und die Sanktionen des Westens sowie die entsprechenden Gegensanktionen Russlands zementiert. Politisch gibt es auf beiden Seiten Narrative, die dem Anderen die „menschliche Qualität“ absprechen, „begrenzte Vernichtungsschläge als passende Antwort“ sehen, wie es Glasl als typisch für diese Stufe ausgedrückt hat. Klar ist, dass Russland den Krieg begonnen hat und für die Eskalation des zuvor schwelenden Konflikts über die Gewaltschwelle hinaus, ja für Kriegsverbrechen, verantwortlich ist. Aber der Westen zielt mit dem Hochschrauben der Sanktionen ebenfalls nicht auf eine Deeskalation. Und die Äußerungen des US-Verteidigungsministers Lloyd Austin, die russischen Streitkräfte nachhaltig schwächen zu wollen, zielt auf die Eskalationsstufe 8, „Paralysieren und Desintegrieren des feindlichen Systems“. Einmal mehr zeigt sich: Es liegt in der Logik von Gewaltkonflikten, dass beide Seiten sich in Eskalationsspiralen verfangen und beide auch von den Folgen betroffen sind.Umso wichtiger ist, auf das „Spiel mit dem nuklearen Feuer“, das Moskau rhetorisch anheizt, von westlicher Seite mit Nüchternheit zu reagieren und das „nukleare Tabu“ wiederherzustellen. Andernfalls wäre dann die Stufe 9 (gemeinsam in den Abgrund) erreicht. Dies würde die „Vernichtung zum Preis der Selbstvernichtung“ implizieren. Die auch nur angedeutete atomare Drohung verlässt das rationale Kalkül der eigenen Überlebenssicherung, das selbst die Hochphasen des Kalten Krieges auf beiden Seiten der Blockkonfrontation bestimmt hat. Insofern ist es zentral, Bemühungen um eine beidseitige Verpflichtung auf einen „no first use“ nicht auf den Sankt-Nimmerleins-Tag zu verschieben.Angesichts der fortbestehenden Gefahr, dass sich die Logik der Gewalt verselbständigt, wird die Frage drängend, ob nicht Verhandlungen oder auch konzertierte Vermittlungsinitiativen einen Weg bieten, das brutale Morden durch Dialog zu beenden und provozierte wie unbeabsichtigte Eskalationen zu vermeiden. Der Wunsch nach baldiger Beendigung des Krieges ist verständlich. Dies auch durch sofortigen Stopp der Waffenlieferungen an die Ukraine erreichen zu wollen aber zum jetzigen Zeitpunkt eher unrealistisch.Indien und die TürkeiEinseitige Angebote seitens der Ukraine oder des Westens zu unterbreiten könnte als Schwäche ausgelegt werden und das Gegenteil bewirken. Wann aber ist ein Krieg „reif“ für Verhandlungen? Der amerikanische Konfliktforscher I. William Zartman hat betont, dass Kriege erst dann „reif“ für eine Beilegung sind, wenn beide Seiten vor einem schmerzhaften Patt stehen, die Kosten und Verluste zu hoch werden, aber Auswege erkennbar sind.Ist dies bei dem derzeitigen Zermürbungskrieg der Fall? Russland intensiviert, trotz hoher eigener Verluste, seine Bemühungen, Teile der Ukraine nachhaltig zu beherrschen. Die ukrainische Regierung hatte im März vier Punkte als Ziel von Verhandlungen genannt: Verzicht auf einen Nato-Beitritt, Verhandlungen über den Status der Krim in 15 Jahren, direkte Verhandlungen zwischen den beiden Präsidenten über den Donbass und Sicherheitsgarantien für die Ukraine. Jetzt schwört die Regierung ihre Bevölkerung auf weiter reichende Kriegsziele ein, die auch die Rückeroberung der Krim beinhalten.Wie also den jetzigen Status quo überwinden? Das Vertrauen der Ukraine in die Aufrichtigkeit der russischen Regierung ist angesichts der von Moskau ständig verbreiteten Lügen und den Erfahrungen in anderen Konflikten (Georgien) verständlicherweise gering. Dennoch gilt es punktuelle Kompromissmöglichkeiten wahrzunehmen und sie nach Möglichkeit weiterzuentwickeln. Das jetzt umgesetzte und von der Türkei und der UNO vermittelte Abkommen zum Transport von Getreide durch das Schwarze Meer ist ein kleines, aber nicht unwichtiges Zeichen, wenn auch die Umsetzung zunächst durch Russlands Angriff auf den Hafen von Odessa konterkariert wurde.Fortgesetzter Druck auf Moskau ist zweifelsohne nötig. Aber auch der Ukraine muss verdeutlicht werden, dass unrealistische und hochriskante Kriegsziele keine Unterstützung des Westens finden werden, so insbesondere die Rückeroberung der Krim. Das geschieht noch nicht, jedenfalls nicht öffentlich. Vermittlungsversuche von Akteuren, die sich nicht auf eine der beiden Seiten in diesem Krieg festgelegt haben, könnten durchaus hilfreich sein. Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan dürfte eine Rolle spielen, auch wenn er in der Nato als unsicherer Kantonist gilt und sein Land nach und nach in eine Autokratie verwandelt hat. Es hat sich gezeigt, dass er mit Hilfe der UNO einen Beitrag leisten konnte. Wichtiger aber noch wäre, wenn für Verhandlungen einflussreiche Länder wie China oder Indien als Garantiemächte ins Spiel kommen würden. Auch müssten die in diesem Krieg weitgehend marginalisierten Vereinten Nationen und die OSZE ihre vorgesehenen Rollen übernehmen.Zuvörderst wäre ein Waffenstillstand nötig, selbst wenn in den substanziellen Fragen großer Dissens besteht, so beim Status der Krim und der Rolle der selbsternannten „Volksrepubliken“ Donezk und Luhansk.In Anbetracht der verhärteten Positionen ist es aber nicht unwahrscheinlich, dass der Krieg eher „einfriert“, als dass der Konflikt beigelegt würde. Im postsowjetischen Raum geschah dies in Georgien (Abchasien, Südossetien), Moldau (Transnistrien) und Aserbaidschan (Nagorno-Karabach). Die Erfahrung zeigt zugleich, dass derartige eingefrorene Kriege schnell wieder heiß werden können. Unabdingbar wäre es, einen solchen Prozess international durch Beobachtungs- und Verifikationsmissionen zu begleiten, um mittelfristig Regelungen für die strittigen Fragen zu finden.Auch wenn die Zeit noch nicht wirklich reif für unmittelbare Verhandlungen sein dürfte, sind Politik und Diplomatie gefordert, sich genau darauf vorzubereiten. Ansonsten dürfte das Verharren in einer Eskalationslogik zu einem lang andauernden, verlustreichen Zermürbungskrieg führen – mit dem Risiko einer Ausweitung. Dass dabei selbst ohne den Einsatz von Nuklearwaffen unmittelbar eine atomare Gefahr droht, hat der Beschuss des Kernkraftwerkes in Saporischschja im August in dramatischer Weise vor Augen geführt. Dies sollte Politik und Öffentlichkeit aufrütteln, nicht nur militärische Szenarien, sondern auch diplomatische Optionen der Gewaltbeendigung zu diskutieren.Placeholder authorbio-1