Eine Welt, die in Jammerossis und Besserwessis eingeteilt werden kann, ist vielleicht keine schöne Welt, aber immerhin eine überschaubare. Ist ja auch mal was, wo doch sonst alles so kompliziert ist. Bei der Bundestagswahl im Herbst 2017 erhielt die Überschau eine neue Tönung: Im den ostdeutschen Bundesländern erhielt eine völkisch-nationale Partei die Stimmen von 21,5 Prozent der Wahlgänger und kam in Sachsen gar auf 27 Prozent. Die Jammerossis liefen plötzlich nicht mehr nur lärmend, schwitzend und abgehängt bei Pegida mit; nein, sie hatten 94 Abgeordnete in den Bundestag gewählt, die mit Slogans wie „Burkas? Wir steh’n auf Bikinis!“ oder „In Seenot? Eher die nächste Verbrechenswelle!“ für sich
ich geworben hatten.Für Jana Hensel und Wolfgang Engler war die Bundestagswahl mehr als nur ein weiterer Beleg für einen Stimmungswechsel, der sich seit Jahren abzeichnet. In ihrem gemeinsamen Buch Wer wir sind interpretieren sie den Erfolg der AfD vielmehr als Zeichen für einen Paradigmenwechsel. So wie 1968 das Ende der Nachkriegszeit markiere, markiere 2017 das Ende der Nachwendezeit. Der Osten hat sich anti-emanzipatorisch emanzipiert.Blutende LandschaftenDas Thema, den Osten und die Ossis, kennen die beiden aus dem Effeff: Hensel, 1976 in Borna geboren und in Leipzig aufgewachsen, gilt seit ihrem 2002 erschienenen Erinnerungsband Zonenkinder als Stimme derjenigen Generation, in deren Erwachsenwerden der Beitritt der DDR zur Bundesrepublik fällt. Von April 2012 bis Ende 2014 war sie stellvertretende Chefredakteurin des Freitag. Engler wiederum, Jahrgang 1952 und von 2005 bis 2017 als Rektor an der Hochschule für Schauspielkunst Ernst Busch tätig, gilt seit Die Ostdeutschen (1999) als einer der wichtigsten Ethnografen der (Post-)DDR. Sie sprechen, wie schon der Titel verrät, also auch über sich, wenn sie über den Osten sprechen.Ebenso unverkennbar wie ihre Expertise ist der Grundkonsens des Buchs, das etwas DDR-Geschichte und viel Nachwendezeit aufrollt: Hensel und Engler möchten Stellung beziehen gegen rassistische und nationalistische Tendenzen, und beide benennen die soziale Ungleichheit als Kernproblem der gesellschaftlichen Entwicklung. Streitstoff gibt es aber trotzdem genug: Während Engler die Öffnung der Grenzen und Merkels berühmtes „Wir schaffen das“ als „konzentrierten Ausdruck der Arroganz der Macht“ deutet, ist der Slogan für Hensel eher zum Soundbite einer identitätsbildenden Willkommenskultur geworden. Auch Englers Standpunkt, dass es einen „Gleichklang“ der Medien gebe, widerspricht Hensel trotz ihrer eigenen, nicht immer positiven Erfahrungen als Ostdeutsche im Medienbetrieb vehement.Besonders heftig streiten die beiden aber schließlich über das, was sie Identitätspolitik nennen. Hier treffen nicht nur ein älterer Mann und eine jüngere Frau aufeinander, die über gendergerechte Sprache reden: Während Hensel einen solidarischen Kern im Kampf der Minderheiten sieht, verfangen sich in Englers Augen die meisten Gruppen in ihrem Ringen um Repräsentation in Nebenwidersprüchen, ohne die gemeinsame Wurzel, das Verhältnis von Herrschern und Beherrschten, auszubuddeln. Deswegen könnten die Neuen Rechten nun so tun, als hätten sie die Schaufel in der Hand.Dass es zwischen den beiden Autoren derart knallen kann, hängt auch mit der Form des Buchs zusammen. Wer wir sind fasst mehrere (vor- und nachbereitete) Gespräche in zehn Kapitel, thematisch geordnet, aber, wie es sich für ein Gespräch gehört, auch bereit zum Sprung und mit Exkursen verbunden. Eine Kehrseite hat die Lebhaftigkeit allerdings auch: Einige Themen werden nicht vertieft, einige wichtige Begriffe nur anzitiert oder sind – wie beispielsweise das Schlagwort Postdemokratie – nur als Hintergrundsummen hörbar. Was auf jeden Fall zu kurz kommt, ist die Betrachtung der Neuen Rechten als gesamteuropäisches Phänomen. Von der Identitären Bewegung ist an keiner Stelle die Rede. Das hat zur Folge, dass der rechte Aufbruch ein bisschen zu graswurzelig daherkommt und dabei einige wichtige Gärtner wie Götz Kubitschek und Konsorten vergisst.Die Kernthese des Buchs belegen Hensel und Engler hingegen eindrücklich. Sie interpretieren die neurechte Welle um Pegida, AfD und Co. als Ergebnis der Nachwendezeit und nicht als Spätfolge der obrigkeitsstaatlichen Erfahrungen von DDR-Bürgern, die immer noch gebeugt durchs Leben gingen, wie Wolf Biermann kürzlich tönte.Die Lawine, die den Osten nach 1990 unter sich begrub, hatte in der Tat eine unvorstellbare Wucht. Sie vereinte den wirtschaftlichen Zusammenbruch, ein demografisches Beben, massive Abwanderung, einen umfassenden Elitenaustausch sowie einen politischen und kulturellen Systemwechsel. Und für diesen totalen Kollaps steht eher Helmut Kohl als Erich Honecker. Die Landschaften blühten nicht. Sie bluteten aus.Elend, Leere, SeeleDie blutleeren Nachwendeossis, die, nunmehr getrieben von der rot-grünen Agenda 2010, durch die geleerten Landschaften geisterten und sich seit Ende 2014 aus den weißen Flecken der Peripherie zurück auf die politische Landkarte drängen, legen die beiden Autoren in Wer wir sind. Die Erfahrung ostdeutsch zu sein auf die Couch. „Wie kompensieren Menschen dieses Elend, diese Leere um sich herum und in ihrer Seele?“, fragt Engler an einer Stelle. „Durch vaterländische Gesinnung? Nicht glücklich, aber deutsch? Das ist zumindest eine Möglichkeit.“Das Gespräch darüber, so das Ziel des Buchs, soll fortgesetzt werden. Wie wichtig das ist, hat nicht zuletzt der Aufmarsch der „Ugly Citizens“ in Chemnitz bewiesen. Denn immerhin sind Gespräche das wichtigste Mittel gegen Depressionen.Placeholder infobox-1
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