Sehnsucht Biathlon

KEHRSEITE Menschen, auch wenn man's bei einigen nicht so recht glauben möcht', haben Sehnsüchte, und der Sport hilft manchmal, sie der Verwirklichung dieser ...

Menschen, auch wenn man's bei einigen nicht so recht glauben möcht', haben Sehnsüchte, und der Sport hilft manchmal, sie der Verwirklichung dieser Sehnsüchte näher zu bringen. Skispringer etwa leben den Traum vom Fliegen aus, Bergsteiger überwinden mit den Felsen auch Naturgewalten, Läufer schaffen dies bei Hügeln, und Fußballer zeigen, was der Fuß, dieses Nichtgreiforgan, alles könnte, wenn die arbeitsteilige Gesellschaft nicht seine feingliedrige Entwicklung behinderte.

Sehnsüchte aber sind mitunter grausam; seit geraumer Zeit boomt Biathlon. Welche Sehnsucht könnte wohl ein Wettbewerb ausdrücken, bei dem auf schmalen Brettern im Kreis gerannt und ab und an geschossen wird?

Biathlon ist eine "Boomsportart", so heißt es bei ARD und ZDF, die vor Jahren in Ermangelung der Übertragungsrechte an anderen Sportereignissen damit anfingen, live den Biathlon-Weltcup zu übertragen. Was niemand prognostizieren konnte, traf ein: Erfolg. Im letzten Winter wurden Einschaltquoten von über dreißig Prozent erreicht, und auch in diesem Jahr liegt die vormittägliche Zuschauerzahl wieder regelmäßig über einer Million, einmal gar bei 2,3 Millionen. In die Skistadien von Oberhof und Ruhpolding kommen sogar an normalen Werktagen über zehntausend Fans.

Wenn andere Ausdauersportarten wie Laufen, Radfahren, Skilanglauf oder Triathlon anfangen, sich für die Verwerter von Sportrechten zu rechnen, dann verdankt sich das in der Regel auch der sportlichen Kompetenz der Zuschauer. Die Marathonleistungen der Weltspitze kann besser anerkennen, wer selbst läuft und das Gefühl kennt, nicht bloß überholt, sondern schlicht abgehängt zu werden. Diese selbst laufenden Zuschauer tragen die Laufindustrie: sie kaufen "Nike"-Schuhe und "adidas"-Hosen, lesen Runner's World, schlucken "Isostar" und kontrollieren ihren Herzschlag am "Polar"-Pulsfrequenzmesser.

Aber Biathlon? Ist vorstellbar, dass der deutsche Außenminister Biathlet wird, auf seinen Reisen nach Washington, Moskau und Peking immer Skier und ein Gewehr dabei hat, und seine Erlebnisse in einem Buch mit dem Titel Mein langer Biathlon zu mir selbst beschreibt? Nein, das ist nicht vorstellbar, und schon gar nicht lässt sich denken, dass ein solcher Außenminister an Popularität gewänne. Oder ist vorstellbar, dass Deutschlands beste Biathletin, Uschi Disl, bloß noch mit dunkler Sonnenbrille und tief runtergezogenem Hut, womöglich begleitet von Bodyguards, aus dem Haus gehen kann, weil sie sonst von ihren Fans zu sehr behelligt würde? Nein, das ist auch nicht vorstellbar.

Biathlon reizt niemanden zur Nachahmung, und der Biathlonsport produziert keine Helden. Warum, verdammt, wird dann der Biathlon-Weltcup geguckt?

Zunächst ist dieses Faszinosum ja die Kombination zweier Sportarten, von denen die eine, der Skilanglauf, sehr wohl massenhaft im Thüringer Wald, dem Schwarzwald und dem Bayerischen Wald betrieben wird, und von denen die andere, das Gewehrschießen, in einem vom klassischen Sportjournalismus gern unterschätzten Ausmaß in vielen Dörfern zu solcher Art Brauchtum gehört, das dort jeder - zumindest jeder männliche - Jugendliche ausprobiert haben muss, will er von den Alten ernstgenommen werden. Dem Wettbewerb um den Schützenkönig sind in der Provinz als eine Art Initiationsritus Wettschießereien für die Jugend vorgelagert.

Dies beides kombiniert Biathlon und damit gelingt es diesem Sport, einer verklemmten Sehnsucht zum Ausdruck zu verhelfen. Einerseits will der Biathlet wie der Jäger als Gebieter über Leben und Tod sein Revier ablaufen und, wo immer es ihm beliebt, durch uneingeschränkten Waffengebrauch für Ordnung sorgen. Andererseits akzeptiert der Biathlet aber auch, dass er nicht unbeschränkter Herrscher ist, denn er anerkennt die Strafe, die gegen ihn verhängt wird, wenn er nicht getroffen hat. Dann muss er, die Regeln schreiben es vor, "Strafrunden" drehen oder erhält "Strafminuten", und plötzlich weiß der Biathlet wieder, dass ein Ausbruch aus der Ordnung nicht sein darf. Im Biathlonsport drückt sich also die gleiche Sehnsucht aus, die junge Menschen hegen, wenn sie ausgerechnet durch die Verpflichtung beim Militär erwachsen werden wollen.

Da lobt man sich dann doch die Formel 1.

Nur für kurze Zeit!

12 Monate lesen, nur 9 bezahlen

Freitag-Abo mit dem neuen Roman von Jakob Augstein Jetzt Ihr handsigniertes Exemplar sichern

Print

Erhalten Sie die Printausgabe zum rabattierten Preis inkl. dem Roman „Die Farbe des Feuers“.

Zur Print-Aktion

Digital

Lesen Sie den digitalen Freitag zum Vorteilspreis und entdecken Sie „Die Farbe des Feuers“.

Zur Digital-Aktion

Dieser Artikel ist für Sie kostenlos. Unabhängiger und kritischer Journalismus braucht aber Unterstützung. Wir freuen uns daher, wenn Sie den Freitag abonnieren und dabei mithelfen, eine vielfältige Medienlandschaft zu erhalten. Dafür bedanken wir uns schon jetzt bei Ihnen!

Jetzt kostenlos testen

Was ist Ihre Meinung?
Diskutieren Sie mit.

Kommentare einblenden