Den literarischen Provinzen in Afrika oder Asien begegnen die Matadoren der "Weltliteratur" gerne mit schneidender Arroganz. "Wenn die Zulus einen Tolstoi haben, werden wir ihn lesen". So spottete einst Saul Bellow. Im Fall des riesigen Subkontinents Indien hat ausgerechnet Salman Rushdie einen eklatanten Fall von literarischer Anglophilie zu verantworten. In der Anthologie The Vintage Book of Indian Writing bilanzierte er 1997 ein halbes Jahrhundert indische Literatur - und siehe da: Unter den insgesamt 32 Autoren war nur ein einziger dabei, dessen Literatursprache nicht das Englische war. Solche Ignoranz prägt bis heute unser Bild von moderner indischer Literatur. Was in den 24 offiziellen indischen Amtssprachen (Hindi, Bengali, Tamil, Punjabi usf.) geschrieben wird, die alle über ein eigenes Schriftsystem verfügen, ist im Grunde nur Südasien-Spezialisten bekannt. Diesen eklatanten Mangel will die diesjährige Frankfurter Buchmesse beheben, die eine große Zahl von Autoren eingeladen hat, die in den indischen Regionalsprachen schreiben. Pionierarbeit bei der Entdeckung dieser regionalsprachigen Autoren für ein deutsches Publikum leistet der Heidelberger Draupadi Verlag. Er wird von dem 1959 geborenen Literaturwissenschaftler Christian Weiß geleitet, der am Südasien-Institut in Heidelberg studiert hat und sich seit vielen Jahren mit der Erforschung und Übersetzung indischer Literatur beschäftigt. Der Name des Verlags ist eine Reminiszenz an das altindische Epos Mahabharata, dessen Heldin Draupadi sich als selbstbewusste Frau gegen Gewalt und patriarchalische Willkür auflehnt. Im Gespräch beschreibt Christian Weiß die Missverständnisse und die Vorurteile, aber auch die Sehnsüchte und die Faszinationen, die unser Bild von Indien prägen.
FREITAG: Salman Rushdie hat in seiner "repräsentativen" Anthologie indischer Literatur kühl behauptet, es gebe jenseits des Englischen und seiner Muttersprache Manto keine nennenswerte Literatur in indischer Sprache. Was halten Sie von einer solchen Hierarchisierung? CHRISTIAN WEISS: Zunächst: Ich habe sehr viel Respekt vor Rushdie, Werke wie die "Mitternachtskinder" sind Meilensteine der Literaturgeschichte. Aber was er da getan hat, kann man ihm kaum verzeihen. Richtig ärgerlich ist sein Vorwort, in dem er behauptet, er habe nach relevanter indischer Literatur gesucht, aber die indo-englische Literatur sei einfach literarisch wertvoller. Alle ernstzunehmenden Indologen und Literaturwissenschaftler in Indien widersprechen ihm da vehement. Glücklicherweise ist die Auswahl der Autoren, die zur Frankfurter Buchmesse kommen, sehr viel differenzierter. Amitav Ghosh, ein renommierter indo-englischer Autor, wird ebenso kommen wie die international noch wenig bekannte Mandakranta Sen, die in Bengali schreibt.
Die Generation der heute 40- bis 60jährigen ist noch sehr geprägt von der Indien-Sehnsucht Hermann Hesses. Inwiefern ist dieses Indien-Bild heute noch virulent?
Bei allem Respekt vor Hesse: "Siddharta" entwirft ein recht merkwürdiges Indien-Bild. Alle Indien-Reisenden mit dem spirituellen Siddharta-Mythos im Kopf sind schockiert, wenn sie auf die wirklichen Verhältnisse stoßen. Als der ungeheuer populäre Schriftsteller Rabindranath Tagore - er erhielt 1913 den Literaturnobelpreis - in den 1920er Jahren in Darmstadt auftauchte, besaß das spirituelle, das mystische Indien noch eine große Anziehungskraft - eine Mystik, die dann im Gefolge des Hesse-Booms und der Hippie-Bewegung in den 1960er Jahren eine Renaissance erlebte. In den letzten Jahren ist dann ein ganz neues Indien-Bild entstanden, Indien als Großmacht, als Wirtschaftsriese und potentielle Bedrohung. Sicherlich gibt es auch heute noch Indien-Reisende, die in einem Ashram ihren Seelenfrieden suchen. Aber es gibt auch ein echtes Interesse am modernen indischen Alltag. So darf man auch hoffen, dass die Buchmesse einen wirklichen Aufschwung des Interesses an indischer Literatur nach sich zieht.
Für welchen Sektor der indischen Literaturen interessiert sich der Draupadi Verlag? Wie haben sie ihre Autoren überhaupt entdeckt?
Ich habe zwei Lehrer, die auch meine Berater sind: Zum einen den indischen Dichter Alokeranjan Dasgupta, der in Heidelberg Bengalistik gelehrt hat, zum andern den Indologen Lothar Lutze vom Heidelberger Südasien-Institut, einer innerhalb Deutschlands ziemlich einzigartigen Institution. Lothar Lutze hat auch den bei Draupadi erschienenen Band des Autors Vishnu Khare ("Die später kommen") angeregt, denn er wollte ein Buch publizieren, das allen gängigen Indien-Klischees vollkommen entgegengesetzt ist.
Inwiefern widersprechen Khares Prosagedichte den Indien-Klischees?
Klischee Nummer eins: Alle Inder sind vergeistigt und spirituell. Bei Khare werden dagegen Leute aus der unteren Mittelklasse beschrieben, die ganz andere, irdische Probleme haben. Klischee Nummer zwei: Indien ist ein gigantischer Wirtschaftsriese. Khare porträtiert dagegen die Verlierer der Globalisierung.
Apropos Wirtschaftsriese: Man sagt, Indien besitze trotz einer Analphabetenrate von 35-40 Prozent den viertgrößten Buchmarkt der Welt?
Hier ein paar Zahlen. Es gibt 15. 000 indische Verlage, 250 Universitäten, 24 Amtssprachen. Wenn man in diesem riesigen Land mit mehr als einer Milliarde Menschen nur ein Prozent Lesewillige annimmt, dann sind das schon zehn Millionen, ein gewaltiger Markt. Die Auflagen der Bücher sind insgesamt kleiner als in Deutschland. Ein Bestseller-Autor wie Sunil Gangopadhyay verkauft 50.000 Exemplare seiner Bücher, im Durchschnitt beträgt die verkaufte Auflage eines Romans aber nur 2.000-3.000 Exemplare. Obwohl die Lyrik einen weitaus größeren Stellenwert hat als in Deutschland, werden von einem Gedichtband - ähnlich wie in Deutschland - weit unter 1000 Exemplare verkauft.
Wie ist denn der Buchhandel organisiert?
Die Distribution der Bücher ist hier ein Riesenproblem. Von westeuropäischen Verhältnissen kann man in Indien nur träumen. Normalerweise ist der Buchhandel auf die großen Millionenstädte beschränkt. Aber es kann passieren, dass man in Calcutta nur ganz schwer an ein Buch heran kommt, das in einem Verlag in Delhi erschienen ist. Insofern haben die Buchmessen eine enorme Bedeutung, da sie als zentrale Foren des Buchverkaufs genutzt werden können.
Sie haben sich auf Schriftsteller konzentriert, die vorwiegend in Hindi und Bengali schreiben. Wie ist der Stellenwert dieser beiden Sprachen im weit gefächerten System der Amtssprachen?
Hindi ist die Sprache, die mit Abstand am häufigsten gesprochen wird, von etwa 40 Prozent der Bevölkerung. Man spricht sie vor allem in Nord-Indien. Es gab nach der Unabhängigkeit 1947 Bestrebungen, Hindi zur landesweiten Nationalsprache zu machen. Aber es gab massive Widerstände in Südindien, wo man Tamil, Malayalam und andere Sprachen spricht und als Nationalsprache das Englische favorisiert. Bengali wiederum ist die Sprache, die man im Osten Indiens spricht. Der berühmteste Bengale ist sicherlich noch immer der Nobelpreisträger Rabindranath Tagore. Wir möchten im Draupadi Verlag ein buntes Spektrum der wichtigsten Regionalsprachen bieten.
Gibt es denn in Deutschland überhaupt befähigte Übersetzer, die uns die Literatur aus den nicht-englischen Landessprachen nahe bringen können?
Es gibt eine Generation von jungen Indologen, die sehr gut aus dem Hindi übersetzen können, aber es gibt in der Tat noch einen Mangel an guten literarischen Übersetzern. Aus dem Bengali gibt es da nur zwei oder drei Leute. Und bei den kleinen indischen Sprachen wird es dann ganz schwierig. Ich denke, das Übersetzen dieser Regionalsprachen müsste gefördert werden.
Das Gespräch führte Michael Braun
Bücher aus dem Draupadi Verlag:
Vishnu Khare: Die später kommen. Prosaische Gedichte. Aus dem Hindi von Lothar Lutze. 92 S., 9,80 EUR
Mandakranta Sen: Alles im Zeichen der Nacht. Gedichte aus Bengalen. Aus dem Bengalischen von Shaymal Dasgupta. 40 S., 7,50 EUR
Nirmal Verma: Ausnahmezustand. Roman. Übersetzt aus dem Hindi von Hannelore Bauhaus-Lötzke und Harald Fischer-Tiné, 160 S., 16,80 EUR
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