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Rückblick Wer nach den großen Streitthemen des Jahres 2018 sucht, wird bei Offenen Briefen fündig
Ausgabe 50/2018
51 Nobelpreisträgerinnen und Nobelpreisträger forderten im Februar den türkischen Präsidenten auf, inhaftierte Schriftsteller und Journalisten freizulassen
51 Nobelpreisträgerinnen und Nobelpreisträger forderten im Februar den türkischen Präsidenten auf, inhaftierte Schriftsteller und Journalisten freizulassen

Foto: Attila Kisbenedek/AFP/Getty Images

Wenn sich in einer Kneipe zwei streiten und der eine laut wird, hat er vielleicht einfach sein Temperament nicht im Griff. Oder er ist so überzeugt davon, im Recht zu sein, dass er denkt, es wäre hilfreich, wenn alle seine Argumente mitanhören. Das Ziel muss nicht unbedingt eine Kneipenkeilerei sein, oft reichen anerkennende Blicke und zustimmendes Gemurmel aus. Das Gefühl, den ganzen Raum auf seiner Seite zu haben. Ähnlich verhält es sich mit Offenen Briefen, die sich neben ihren eigentlichen Adressaten – der Kanzlerin, dem Stadtrat, einem Verlagsmanger – an eine möglichst breite Öffentlichkeit richten. 2018 verging kaum eine Woche, in der nicht einer durch die Medien flatterte. Deshalb lässt sich das, was in diesem Jahr im Kulturbetrieb los war, ganz gut in Offenen Briefen abbilden.

Einige waren Teil von Debatten, die das ganze Jahr widerhallten. Die „Erklärung der Vielen“, mit der sich weit über hundert Kulturinstitutionen Anfang November darauf verpflichteten, völkisch-nationaler Propaganda kein Podium zu bieten und sich mit Opfern rechtsextremer Politik zu solidarisieren, ist auch ein Gegenstück zu der im März verabschiedeten „Erklärung 2018“, mit der Publizisten wie Thilo Sarrazin, Matthias Matussek und der Autor Uwe Tellkamp die „illegale Masseneinwanderung“ nach Deutschland anprangerten. Tellkamp wiederum reagierte im Dezember auf die „Erklärung der Vielen“ mit einem weiteren Offenen Brief auf Götz Kubitscheks Webblog Sezession. Dass ein offener Brief selten allein kommt, zeigte sich gleich zu Anfang des Jahres, als die Drehbuchautoren der nominierten Filme – anders als die Regisseure und Schauspieler – mal wieder nicht zum Deutschen Fernsehpreis eingeladen wurden: Bleibt die (erwünschte) Reaktion aus, ist es ein probates Mittel, mit noch mehr und prominenteren Unterstützern nachzulegen.

Nicht berücksichtigt haben wir Petitionen auf Plattformen wie change.org, denn damit hätten wir die gesamte Zeitung füllen können. Oder was sonst so in den Sozialen Netzwerken los war. Wenn der Journalist Hasnain Kazim seit dem 14. Oktober jeden Tag auf Twitter schreibt: „Ist Horst Seehofer eigentlich noch im Amt? Wenn ja, warum?“– ist das dann auch ein Offener Brief? Zu Fall bringen wird es den Innenminister vermutlich ebensowenig wie der mit „Würde, Verantwortung, Demokratie“ überschriebene Brief vom 21. September.

Das Jahr in offenen Briefen

Januar, 12. „Wir gehören in die erste Reihe“

Darum geht’s Beim Deutschen Fernsehpreis sind die Drehbuchautoren nicht eingeladen worden

Adressat Geschäftsführer und Intendanten von RTL, ZDF, WDR und SAT.1

Unterzeichner Jan Herchenröder (Verband Deutscher Drehbuchautoren)

Januar, 16. „Wir sind nicht bloß Gäste“

Darum geht’s Die Autoren wurden nachträglich eingeladen; nur als Gäste

Adressat siehe 12. Januar

Unterzeichner Sebastian Andrae, Prof. Peter Henning, Katharina Amling, Brigitte Drodtloff, Dinah Marte Golch, Uwe Petzold, Christian Lex (VDD)

Februar, 28. „Rückkehr in die freie Welt“

Darum geht’s Die Freilassung türkischer Schriftsteller und Journalisten sowie den rechtsstaatlichen Schutz der Meinungsfreiheit in der Türkei

Adressat Recep Tayyip Erdoğan

Unterzeichner 51 Nobelpreisträger, u. a. Elfriede Jelinek und Herta Müller

März, 15. „Erklärung 2018“

Darum geht’s Solidarität mit den Protesten gegen eine „illegale Masseneinwanderung“

Adressat

Unterzeichner 165.316 Unterstützer, 31 Erstunterzeichner, u.a. Uwe Tellkamp, Thilo Sarrazin und Matthias Matussek

April, 13. „Für das Experiment kämpfen“

Darum geht’s Matthias Lilienthal verlässt die Münchner Kammerspiele. Ihm fehlte der Rückhalt der Politik

Adressat Münchner Stadtrat

Unterzeichner 300 Kulturschaffende, u.a. Wolfgang Tillmans, Navid Kermani, Josef Bierbichler, Hortensia Völckers

April, 29. „Volksbühne neu verhandeln“

Darum geht’s Die Besetzer*innen von Staub zu Glitzer fordern nach Chris Dercons Rücktritt erneut, die Volksbühne unter Selbstverwaltung zu stellen

Adressat Berlins Regierender Bürgermeister Michael Müller

Unterzeichner „Ihr Kollektiv“

Mai, 24. „Oleg Sentsovs Tod verhindern“

Foto: Michal Cizek/AFP/Getty Images

Darum geht’s Der ukrainische Regisseur wurde in Russland zu 20 Jahren Haft verurteilt und trat in den Hungerstreik

Adressat Angela Merkel, Heiko Maas

Unterzeichner 350 Intellektuelle und Wissenschaftler, u.a. Wladimir Kaminer, Herta Müller und Freya Klier

September, 12. „Viele verwundert, einige entsetzt“

Darum geht’s Rowohlt-Verlagschefin Barbara Laugwitz wurde ohne Begründung entlassen

Adressat Joerg Pfuhl, CEO von Holtzbrinck (Mutterkonzern von Rowohlt)

Unterzeichner 22 Autoren, u.a. David Wagner und Margarete Stokowski

September, 12. „Im Zweifel zweifeln“

Darum geht’s In der Ausstellung Im Zweifel für den Zweifel im NRW-Forum Düsseldorf sind so gut wie keine Künstlerinnen vertreten

Adressat

Unterzeichner 1.192 Künstler*innen, Kurator*innen und Kritiker*innen

September, 21. „Würde, Verantwortung, Demokratie“

Darum geht’s Horst Seehofer soll noch vor der bayrischen Landtagswahl als Innenminister zurücktreten. Er beschädige die Werte der Verfassung

Adressat

Unterzeichner 8.691 Kulturschaffende

Oktober, 1. „Strafaktion für Unangepasstheit“

Darum geht’s Gegen Hubertus Knabes Entlassung als Leiter der Stasiopfer-Gedenkstätte Hohenschönhausen wegen Duldung sexueller Belästigung

Adressat Kultursenator Klaus Lederer

Unterzeichner Heidi Bohley, Freya Klier, Edda Schönherz, Barbara Zehnpfennig

Oktober, 10. „Das Bauhaus ist nicht unpolitisch“

Darum geht’s Ein Konzert der Band Feine Sahne Fischfilet wurde auf Druck von rechts im Bauhaus Dessau untersagt

Adressat Stiftungsrat Bauhaus Dessau

Unterzeichner 194 Architekten, Stadtsoziologen und Künstler, u.a. Matthias Sauerbruch und Hito Steyerl

Oktober, 26. „Wir lehnen den Zensurversuch ab“

Darum geht’s Die Lehrer-Prangerder AfD, die Kritik an der Partei im Unterricht verhindern sollen

Adressat Hamburger AfD-Bürgerschaft

Unterzeichner 106 Lehrende der Max-Brauer-Schule Hamburg-Altona

November, 9. „Erklärung der Vielen“

Darum geht’s Eine Selbstverpflichtung, sich gegen Diskriminierung und für eine solidarische Gesellschaft einzusetzen und „kein Podium für völkisch-nationalistische Propaganda“ zu bieten

Adressat

Unterzeichner: 140 Kulturinstitutionen

November, 13. „Der Moralismus ‚Der Vielen‘“

Darum geht’s Auf der Webseite der neurechten Zeitschrift Sezession wirft Uwe Tellkamp den Unterzeichnern der „Erklärung der Vielen“ die Errichtung eines „Gesinnungskorridors“vor

Adressat Hans-Peter Lühr, Paul Kaiser

Unterzeichner Uwe Tellkamp

November, 26. „Dem Fortschritt anpassen“

Darum geht’s Die umstrittene Genschere CRISPR/Cas9 und gegen den Entscheid des EuGH, diese streng zu regulieren

Adressat Anja Karliczek und Julia Klöckner

Unterzeichner 130 Pflanzenforscher

Dezember, 5. „Es reicht!“

Darum geht’s Die Verfasser werfen Hubertus Knabes Unterstützern rechtspopulistische Methoden vor

Adressat

Unterzeichner 40 Ex-DDR-Bürgerrechtler, Historiker und Kulturschaffende, u.a. Wolf Biermann und Axel Klausmeier

Dezember, 5. „We are sick of it“

Darum geht’s Rassismus in der Kunstwelt. Anlass ist eine Podiumsdiskussion mit dem Kurator Kasper König und der Künstlerin Cana Bilir-Meier

Adressat

Unterzeichner 130 Künstler*innen und Aktivist*innen

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