Wenn sich in einer Kneipe zwei streiten und der eine laut wird, hat er vielleicht einfach sein Temperament nicht im Griff. Oder er ist so überzeugt davon, im Recht zu sein, dass er denkt, es wäre hilfreich, wenn alle seine Argumente mitanhören. Das Ziel muss nicht unbedingt eine Kneipenkeilerei sein, oft reichen anerkennende Blicke und zustimmendes Gemurmel aus. Das Gefühl, den ganzen Raum auf seiner Seite zu haben. Ähnlich verhält es sich mit Offenen Briefen, die sich neben ihren eigentlichen Adressaten – der Kanzlerin, dem Stadtrat, einem Verlagsmanger – an eine möglichst breite Öffentlichkeit richten. 2018 verging kaum eine Woche, in der nicht einer durch die Medien flatterte. Deshalb lässt sich das, was in diesem Jahr im Kulturbetrieb los war, ganz gut in Offenen Briefen abbilden.
Einige waren Teil von Debatten, die das ganze Jahr widerhallten. Die „Erklärung der Vielen“, mit der sich weit über hundert Kulturinstitutionen Anfang November darauf verpflichteten, völkisch-nationaler Propaganda kein Podium zu bieten und sich mit Opfern rechtsextremer Politik zu solidarisieren, ist auch ein Gegenstück zu der im März verabschiedeten „Erklärung 2018“, mit der Publizisten wie Thilo Sarrazin, Matthias Matussek und der Autor Uwe Tellkamp die „illegale Masseneinwanderung“ nach Deutschland anprangerten. Tellkamp wiederum reagierte im Dezember auf die „Erklärung der Vielen“ mit einem weiteren Offenen Brief auf Götz Kubitscheks Webblog Sezession. Dass ein offener Brief selten allein kommt, zeigte sich gleich zu Anfang des Jahres, als die Drehbuchautoren der nominierten Filme – anders als die Regisseure und Schauspieler – mal wieder nicht zum Deutschen Fernsehpreis eingeladen wurden: Bleibt die (erwünschte) Reaktion aus, ist es ein probates Mittel, mit noch mehr und prominenteren Unterstützern nachzulegen.
Nicht berücksichtigt haben wir Petitionen auf Plattformen wie change.org, denn damit hätten wir die gesamte Zeitung füllen können. Oder was sonst so in den Sozialen Netzwerken los war. Wenn der Journalist Hasnain Kazim seit dem 14. Oktober jeden Tag auf Twitter schreibt: „Ist Horst Seehofer eigentlich noch im Amt? Wenn ja, warum?“– ist das dann auch ein Offener Brief? Zu Fall bringen wird es den Innenminister vermutlich ebensowenig wie der mit „Würde, Verantwortung, Demokratie“ überschriebene Brief vom 21. September.
Das Jahr in offenen Briefen
Januar, 12. „Wir gehören in die erste Reihe“
Darum geht’s Beim Deutschen Fernsehpreis sind die Drehbuchautoren nicht eingeladen worden
Adressat Geschäftsführer und Intendanten von RTL, ZDF, WDR und SAT.1
Unterzeichner Jan Herchenröder (Verband Deutscher Drehbuchautoren)
Januar, 16. „Wir sind nicht bloß Gäste“
Darum geht’s Die Autoren wurden nachträglich eingeladen; nur als Gäste
Adressat siehe 12. Januar
Unterzeichner Sebastian Andrae, Prof. Peter Henning, Katharina Amling, Brigitte Drodtloff, Dinah Marte Golch, Uwe Petzold, Christian Lex (VDD)
Februar, 28. „Rückkehr in die freie Welt“
Darum geht’s Die Freilassung türkischer Schriftsteller und Journalisten sowie den rechtsstaatlichen Schutz der Meinungsfreiheit in der Türkei
Adressat Recep Tayyip Erdoğan
Unterzeichner 51 Nobelpreisträger, u. a. Elfriede Jelinek und Herta Müller
März, 15. „Erklärung 2018“
Darum geht’s Solidarität mit den Protesten gegen eine „illegale Masseneinwanderung“
Adressat –
Unterzeichner 165.316 Unterstützer, 31 Erstunterzeichner, u.a. Uwe Tellkamp, Thilo Sarrazin und Matthias Matussek
April, 13. „Für das Experiment kämpfen“
Darum geht’s Matthias Lilienthal verlässt die Münchner Kammerspiele. Ihm fehlte der Rückhalt der Politik
Adressat Münchner Stadtrat
Unterzeichner 300 Kulturschaffende, u.a. Wolfgang Tillmans, Navid Kermani, Josef Bierbichler, Hortensia Völckers
April, 29. „Volksbühne neu verhandeln“
Darum geht’s Die Besetzer*innen von Staub zu Glitzer fordern nach Chris Dercons Rücktritt erneut, die Volksbühne unter Selbstverwaltung zu stellen
Adressat Berlins Regierender Bürgermeister Michael Müller
Unterzeichner „Ihr Kollektiv“
Mai, 24. „Oleg Sentsovs Tod verhindern“

Foto: Michal Cizek/AFP/Getty Images
Darum geht’s Der ukrainische Regisseur wurde in Russland zu 20 Jahren Haft verurteilt und trat in den Hungerstreik
Adressat Angela Merkel, Heiko Maas
Unterzeichner 350 Intellektuelle und Wissenschaftler, u.a. Wladimir Kaminer, Herta Müller und Freya Klier
September, 12. „Viele verwundert, einige entsetzt“
Darum geht’s Rowohlt-Verlagschefin Barbara Laugwitz wurde ohne Begründung entlassen
Adressat Joerg Pfuhl, CEO von Holtzbrinck (Mutterkonzern von Rowohlt)
Unterzeichner 22 Autoren, u.a. David Wagner und Margarete Stokowski
September, 12. „Im Zweifel zweifeln“
Darum geht’s In der Ausstellung Im Zweifel für den Zweifel im NRW-Forum Düsseldorf sind so gut wie keine Künstlerinnen vertreten
Adressat –
Unterzeichner 1.192 Künstler*innen, Kurator*innen und Kritiker*innen
September, 21. „Würde, Verantwortung, Demokratie“
Darum geht’s Horst Seehofer soll noch vor der bayrischen Landtagswahl als Innenminister zurücktreten. Er beschädige die Werte der Verfassung
Adressat –
Unterzeichner 8.691 Kulturschaffende
Oktober, 1. „Strafaktion für Unangepasstheit“
Darum geht’s Gegen Hubertus Knabes Entlassung als Leiter der Stasiopfer-Gedenkstätte Hohenschönhausen wegen Duldung sexueller Belästigung
Adressat Kultursenator Klaus Lederer
Unterzeichner Heidi Bohley, Freya Klier, Edda Schönherz, Barbara Zehnpfennig
Oktober, 10. „Das Bauhaus ist nicht unpolitisch“
Darum geht’s Ein Konzert der Band Feine Sahne Fischfilet wurde auf Druck von rechts im Bauhaus Dessau untersagt
Adressat Stiftungsrat Bauhaus Dessau
Unterzeichner 194 Architekten, Stadtsoziologen und Künstler, u.a. Matthias Sauerbruch und Hito Steyerl
Oktober, 26. „Wir lehnen den Zensurversuch ab“
Darum geht’s Die Lehrer-Prangerder AfD, die Kritik an der Partei im Unterricht verhindern sollen
Adressat Hamburger AfD-Bürgerschaft
Unterzeichner 106 Lehrende der Max-Brauer-Schule Hamburg-Altona
November, 9. „Erklärung der Vielen“
Darum geht’s Eine Selbstverpflichtung, sich gegen Diskriminierung und für eine solidarische Gesellschaft einzusetzen und „kein Podium für völkisch-nationalistische Propaganda“ zu bieten
Adressat –
Unterzeichner: 140 Kulturinstitutionen
November, 13. „Der Moralismus ‚Der Vielen‘“
Darum geht’s Auf der Webseite der neurechten Zeitschrift Sezession wirft Uwe Tellkamp den Unterzeichnern der „Erklärung der Vielen“ die Errichtung eines „Gesinnungskorridors“vor
Adressat Hans-Peter Lühr, Paul Kaiser
Unterzeichner Uwe Tellkamp
November, 26. „Dem Fortschritt anpassen“
Darum geht’s Die umstrittene Genschere CRISPR/Cas9 und gegen den Entscheid des EuGH, diese streng zu regulieren
Adressat Anja Karliczek und Julia Klöckner
Unterzeichner 130 Pflanzenforscher
Dezember, 5. „Es reicht!“
Darum geht’s Die Verfasser werfen Hubertus Knabes Unterstützern rechtspopulistische Methoden vor
Adressat –
Unterzeichner 40 Ex-DDR-Bürgerrechtler, Historiker und Kulturschaffende, u.a. Wolf Biermann und Axel Klausmeier
Dezember, 5. „We are sick of it“
Darum geht’s Rassismus in der Kunstwelt. Anlass ist eine Podiumsdiskussion mit dem Kurator Kasper König und der Künstlerin Cana Bilir-Meier
Adressat –
Unterzeichner 130 Künstler*innen und Aktivist*innen
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