Es gibt Jahre, die so eng mit weltpolitischen Ereignissen verknüpft sind, dass allein ihre Nennung als Chiffre einer historischen Zäsur fungiert. 2001 ist bekanntlich eines dieser Jahre. Die Terroranschläge vom 11. September wurden bereits am Folgetag als ein Moment bestimmt, in dem sich die Geschichte in ein Vorher und Nachher aufgespalten habe: Sie markierten den Beginn neuer globaler Frontlinien und das Ende der postmodernen Ironie. Der neue Roman der österreichischen Autorin Angela Lehner, die mit Vater unser 2019 ein vielbeachtetes Debüt hingelegt hat, erzählt von den Monaten unmittelbar vor den Anschlägen. Er handelt vom Leben einer Gruppe österreichischer Jugendlicher in der fiktiven Kleinstadt Tal. 2001 rückt jene Ereignisse in den Blick
eignisse in den Blick, die schon lange vor der vermeintlichen Zäsur eine Zeitenwende eingeleitet haben – und zwar nicht auf der großen weltpolitischen Bühne, sondern in der österreichischen Provinz.Erzählt wird 2001 aus der Perspektive der 15-jährigen Julia Hofer. Gemeinsam mit ihrem Bruder lebt sie in einem der „bröckelnden Mietshäuser“ am Stadtrand. Die Geschwister ernähren sich von Fertig-Cappuccino und Spaghetti bolognese, die Zutaten erwerben sie mit Lebensmittelmarken. Eltern kommen über weite Strecken des Romans nicht vor, und es wird spät klar, dass das nicht daran liegt, dass es keine Eltern gäbe. Familienzusammenhalt haben Julia und Michael jedenfalls nicht zu Hause gelernt, sondern bei ihrer „Crew“. Deren Mitglieder teilen neben der Leidenschaft für Rap auch den Status als soziale Außenseiter. Ein Großteil des Freundeskreises besucht eine Klasse, die auf der Hauptschule schlicht als „Restmüll“ bezeichnet wird. Hier sitzen Schüler, denen jedes Talent abgesprochen wird. Für Julia gilt das in besonderem Maße: Selbst die „Crew“ bescheinigt ihr regelmäßig, „nicht die hellste Kerze auf dem Kuchen“ zu sein.Als „Würstel“ beschimpftDer Schriftsteller Wolfgang Herrndorf hat die „schnelle Eliminierung der erwachsenen Bezugspersonen“ einmal als literarisches Erfolgsrezept nicht nur von Jugendliteratur bestimmt. Auch die Faszination, die von Lehners Romanausgeht, hat viel damit zu tun. Herausgefordert wird die Gruppe in unvorhergesehener Weise durch ein pädagogisches Experiment, das am Beginn des Romans steht. Ausgerechnet die Klasse der vermeintlich Minderbegabten soll in einem Rollenspiel die gegenwärtige Weltpolitik nachstellen: Jeder Schüler bekommt die Rolle eines Akteurs zugewiesen, den er während des gesamten Schuljahrs verkörpern und dessen Position er in einem Referat vertreten soll. Es zeichnet sich früh ab, dass das Experiment kolossal scheitert. Wenn der Klassenlehrer am Ende von seinen Schülern als „Würstel“ beschimpft wird und der den Klassenraum seinerseits mit einem „Fickt’s euch!“ verlässt, liegt das weniger daran, dass die Schüler von der Aufgabe, Jörg Haider oder George W. Bush zu verkörpern, überfordert wären. Vielmehr legt das Rollenspiel unterschwellige Konflikte frei. Die Schüler entwickeln ein politisches Bewusstsein – aber nicht, indem sie Stellung zur EU-Politik oder zum Nahostkonflikt beziehen, sondern indem sie die unmittelbaren Effekte der Politik auf ihr Leben wahrzunehmen beginnen.Für die Jugendlichen bietet die Kleinstadt kaum Perspektiven. Seit die örtliche Milchfabrik geschlossen wurde, ist nicht nur die Arbeitslosigkeit, sondern auch die Fremdenfeindlichkeit radikal angestiegen. Julias Mitschüler Andreas, dessen Vater schon lange keine Stelle mehr findet, schließt sich einer Gruppe Skinheads an und sondert sich immer stärker von der „Crew“ ab. Als die Skinheads eine Latino-Bar in Tal angreifen, in der Julia und ihre Freunde sich zum Sangriakübeltrinken treffen, steht er zwischen den Fronten. Bene, ein anderes Mitglied der Gruppe, outet sich als homosexuell und stört sich zunehmend daran, dass seine Freunde sich wie selbstverständlich als „Homos“ oder „Mongos“ anreden. Julia selbst wiederum möchte Rapstar werden, muss aber bald erkennen, dass nicht nur dieser Traum utopisch ist, sondern schon ein Schulabschluss.Lehners Roman handelt davon, wie man aus der eigenen Hilflosigkeit freundschaftlichen Zusammenhalt und eine produktive Form der Wut generiert. Hatte die Autorin schon in Vater unser ein großes erzählerisches Talent und einen einzigartigen Sinn für Komik und Dialoge bewiesen, so gilt das für 2001 in einem noch höheren Maß. Es erfordert viel handwerkliches Können, für die Verbindung von Bildungsferne, Naivität, Jugendlichkeit und popkulturellem Know-how, die die Sprache der Erzählerin auszeichnet, einen Ton zu finden, der nicht gemacht oder forciert wirkt. Lehner gelingt das ebenso meisterhaft wie die Verknüpfung großer politischer Konflikte mit dem Alltag jugendlicher Kleinstädter. Die sozialen Problemlagen werden im Roman kaum je offen angesprochen, sondern in der Regel bloß indirekt und auf Umwegen thematisiert. Schließlich wird die Welt des Jahres 2001 durch die Beschreibung der Verhaltens- und Kommunikationsformen, die subtile Integration von Markennamen, Popmusik- und Serientiteln plastisch, ohne dass diese Referenzen plakativ erscheinen. Der Roman zeichnet sich durch eine bestechende Kombination aus Leichtigkeit, Witz und Schwermut aus. Es fällt schwer, sich am Ende von seinen Figuren zu trennen.Placeholder infobox-1