Seht Sautet

Neubewertung Die aktuelle Renaissance des Regisseurs Claude Sautet ist eine Wiederkehr des Verdrängten
Ausgabe 27/2015
Claude Sautet (links) und Yves Montand 1983 beim Dreh von „Garçon !“
Claude Sautet (links) und Yves Montand 1983 beim Dreh von „Garçon !“

Foto: AD/Imago

Claude Sautet (1924-2000) hatte das große Glück, nicht dazuzugehören. Mit dem Klüngel der Nouvelle Vague hatte er nichts zu schaffen. Auch zu den anderen Kapellen, in die sich das französische Nachkriegskino aufspaltete, hielt er Distanz. Dass man ihn nicht mühelos vereinnahmen konnte, machte Sautet zwar zum Zankapfel der Kritik; bei den Cahiers du Cinéma, dem Parteiorgan der Neuen Welle, konnte er zeitlebens keinen Stich landen. Seinem Erfolg an den Kinokassen schadete das aber nicht.

Das große Publikum begeisterte sich für seine atmosphärischen Innenansichten der Bourgeoisie. Es war fasziniert von der Geschmeidigkeit, mit der er große Stars wie Romy Schneider, Michel Piccoli, Yves Montand oder Emmanuelle Béart als Alltagsfiguren besetzte, ohne dass der ihnen anhaftende Glamour ihre Glaubwürdigkeit in diesen Rollen schmälerte. Die Genauigkeit seiner Beobachtungen ließ auf eine Komplizenschaft schließen, die vor allem Kritikern hierzulande nicht geheuer war. Als bürgerlichen Chronisten verorteten sie ihn gerade noch diesseits des Konfektionärs Claude Lelouch, aber doch weit entfernt vom Entlarvungsfuror eines Claude Chabrol. Einer der düstersten Filme Claude Sautets, Das Mädchen und der Kommissar (1971), hatte in Deutschland allerdings weit mehr Zuschauer als in Frankreich.

Nun scheint Sautet wieder etwas in Mode zu kommen. Gerade ist im Schüren-Verlag eine betrachtungsgenaue, zugeneigte Monografie von Bettina Karrer erschienen. Auf den Festivals von Lyon und La Rochelle liefen jüngst erfolgreiche Hommagen. Im New Yorker Lincoln Plaza Cinema wurde er im Juni als der „beste französische Filmemacher, von dem Sie nie gehört haben“ präsentiert. Und das Berliner Kino Arsenal, das für seine gerade absolvierte Retrospektive alte Vorbehalte gegenüber dem französischen Mainstream überwand, ist mit den Zuschauerzahlen überaus zufrieden.

Manche müssen bei Sautet noch über ihren Schatten springen. Als die von Serge Toubiana, einem ehemaligen Chefredakteur der Cahiers, geleitete Pariser Cinémathèque ihr neues Programm präsentierte, wurde Sautet als großer Drehbuchautor des französischen Kinos vorgestellt. Ein vergifteteres Kompliment kann man sich in der Heimat der politique des auteurs, die den Regisseur zum alleinigen Urheber eines Films erklärt, kaum vorstellen. Da war der Cahiers-Autor François Truffaut hellsichtiger als seine Nachfolger. Er rühmte Sautet als französischsten aller Regisseure und seine unvergleichlichen Bistroszenen als Quintessenz des gallischen Kinos.

Heute ist es um den Nachruhm der Nouvelle Vague nicht mehr ganz so gut bestellt. Ihre Protagonisten sind entweder tot, haben sich in den verdienten Ruhestand begeben (Jacques Rivette) oder machen gelegentlich durch selbstgefällige und missgünstige Äußerungen von sich reden (Jean-Luc Godard). Als Deutungsmodell und Vorbild hat die Neue Welle noch nicht ausgedient, als einzig gültiges Paradigma schon. Die Filmgeschichte ist reicher geworden. Stephanie Zacharek bringt in der New Yorker Wochenzeitung Village Voice den Wandel von künstlerischer Potenz und Publikumswahrnehmung treffend auf den Punkt: „Als Godard langweilig wurde, legte Sautet erst richtig los.“

Seine Renaissance ist eine Wiederkehr des Verdrängten. Sie verdankt sich nicht zuletzt jenen Qualitäten, die ihn einst verdächtig machten. Seine anspielungsreichen Filme reflektieren nicht das Medium, sondern das Leben und die Gesellschaft. Seine Selbstbefragungen des Bürgertums sind vielschichtiger und schärfer, als seine Gegner wahrhaben wollten. Ihm gelang das Paradoxon, von Isolation und Entfremdung in Ensemblefilmen zu erzählen. Claude Sautet war nicht nur ein exzellenter Handwerker (von dessen Talent als Drehbuchautor unter anderem Louis Malle profitierte), sondern ein so feinsinniger wie robuster Stilist. Die französische Bourgeoisie war bei diesem unbestechlichen Menschenkenner in den besten Händen.

Info

Unstillbare Sehnsucht. Die Filme von Claude Sautet Bettina Karrer Schüren 2015, 380 S., 38 €

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