Seid gekränkt!

Sachbuch Sascha Lobo stellt fest, dass die Welt komplexer ist, als wir dachten. Oder denken können?
Ausgabe 42/2019
Die vierte Kränkung der Menschheit? Das Netz ist kein reines Fortschrittsmoment, sondern taugt auch zur massiven Überwachung der Bürger
Die vierte Kränkung der Menschheit? Das Netz ist kein reines Fortschrittsmoment, sondern taugt auch zur massiven Überwachung der Bürger

Foto: Kirill Kudryavtsev/AFP/Getty Images

Sigmund Freud veröffentlicht 1917 den Aufsatz Eine Schwierigkeit der Psychoanalyse, in dem er drei fundamentale und narzisstische Kränkungen der Menschheit identifiziert: erstens die kosmologische oder kopernikanische Kränkung, also die Einsicht, dass nicht die Sonne sich um die Erde, sondern die Erde sich um die Sonne dreht und der Mensch folglich nicht im Mittelpunkt des Universums steht. Zweitens die biologische oder darwinistische Kränkung: die Erkenntnis, dass der Mensch vom Affen abstamme; und drittens die psychologische – im Grunde die Freud’sche – Kränkung, die darin besteht, dass beträchtliche Teile der individuellen Persönlichkeit eines Menschen von unbewussten Regungen und libidinösen Trieben bestimmt werden, die nur mittels psychoanalytischer Verfahren an die Oberfläche des Seelenlebens gehoben und somit aufgelöst werden können. Im Januar 2014, kurz nach den Enthüllungen des Whistleblowers Edward Snowden, spricht Sascha Lobo von der vierten, der digitalen Kränkung der Menschheit. Diese bestünde, so Lobo, darin, dass das Internet nicht nur als Instrument der Freiheit, der Demokratisierung und der freien Zugänglichkeit zu Bildung und Kultur genutzt werde, als das es zunächst konzipiert war, sondern auch dazu, nicht nur einzelne Personen oder Personengruppen, sondern ganze Staaten zu überwachen. Diese digitale Kränkung der Menschheit mag sich auch daraus erklären, dass es das Internet gar nicht gibt, sondern dass das, was unter dem Begriff des Internets subsummiert wird, lediglich eine Vielzahl verschiedener Nutzungspraktiken und Anwendungsmöglichkeiten darstellt, die diesem oder jenem Zweck dienlich sein können.

Um eben jene Nutzungspraktiken und Anwendungsmöglichkeiten drehen sich auch die Zehn Lehren aus der Gegenwart, die Lobo in seinem Buch Realitätsschock versammelt und die im Grunde eher den Charakter von Beobachtungen gegenwärtiger Phänomene haben. Unter einem Realitätsschock versteht Lobo die Erkenntnis, dass die Welt anders beschaffen ist, anderen Regeln folgt, als bisher angenommen. Realitätsschocks sind „Kippelemente im Wahrnehmungssystem der Öffentlichkeit“. Ein Beispiel: Der Realitätsschock der sozialen Medien besteht im Erkennen der eigenen Hilflosigkeit „angesichts des allzu dünnen Firnisses der Zivilisation“, der in ihnen sichtbar wird.

Wahrscheinlich ist es echt so

In zehn Kapiteln widmet sich Lobo unter anderem Themen wie Umweltschutz, Migration, Gesundheit oder künstlicher Intelligenz. Während der Lektüre wird deutlich, dass all diese Themen vor allem eines sind: komplex. Diese Komplexität ist in Lobos Buch doppelt gewendet, denn einerseits entwirft er mannigfaltige Perspektiven auf jene Diskurse, die in den (sozialen) Medien breit, aber häufig unterkomplex geführt werden; andererseits schafft er ein ganz grundsätzliches Bewusstsein dafür, dass es für die aus diesen Diskursen entstehenden Gemengelagen keine einfachen Lösungen gibt.

Die Grundbedingungen aber für die soziokulturellen und ökonomischen Disruptionen, die dann als Realitätsschocks wahrgenommen werden, sind in der Digitalisierung und der Globalisierung der Gesellschaft zu finden. Dabei nehmen die sozialen Medien eine Sonderrolle ein, denn auf die eine oder andere Art und Weise sind sie an den meisten dieser Schockmomente beteiligt. Facebook,Twitter und Instagram fungieren als Skalierungs- und Sichtbarmachungsmaschinerien.

Hatespeech und Mobbing sind aber keine Erfindungen der sozialen Medien, sondern Mechanismen, die auch abseits einer digital vernetzten Welt stattfinden. Die fünfte narzisstische Kränkung der Menschheit könnte in der Erkenntnis des tatsächlichen Zustandes gesellschaftlicher Verhältnisse bestehen. Denn in den sozialen Medien könnte auch nur all das sichtbar werden, was in der wirklichen Wirklichkeit nicht etwa wieder aufgetaucht ist, sondern dort nie verschwunden war. Das, was für den Rest der Gesellschaft nur unsichtbar war: Ressentiment und Ignoranz.

Info

Realitätsschock. Zehn Lehren aus der Gegenwart Sascha Lobo Kiepenheuer & Witsch 2019, 400 S., 22 €

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