Seit´ an Seit´

Nachruf II Zum Tod der Historikerin Susanne Miller (1915-2008)

Die Beschäftigung mit dem Schicksal der weniger Privilegierten war ihr nicht in die Wiege gelegt worden. Am 14. Mai 1915 in eine großbürgerliche Familie jüdischen Ursprungs hineingeboren, behütet von Gouvernanten und Dienstboten, verbrachte Susanne Miller, "Susi", wie sie nicht nur von Parteifreunden liebevoll genannt wurde, ihre Kindheit in Wien. Für die "Tochter aus gutem Hause" war der Besuch des Humanistischen Gymnasiums in Wien und später in Sofia selbstverständlich. Nach der Matura studierte sie in Wien Anglistik, Geschichte und Philosophie. Den ihr vorgezeichneten konservativ-bürgerlichen Lebensweg verließ sie aber bald. Angestoßen durch Gespräche mit einem Lehrer, der ihr sozialistisches Gedankengut und die Schriften des Gründers des Internationalen Sozialistischen Kampfbundes (ISK), Leonard Nelson, nahe brachte, beschäftigte sich mit dem ethisch begründeten Sozialismus.

Es war der Wiener Februaraufstand 1934, bei dem die Sozialdemokraten gegen den faschistischen Staatsapparat unterlagen, der Susanne Miller für die nächsten Jahrzehnte prägte. Sie beteiligte sich an den Hilfsaktionen für die Opfer des Aufstandes. Der Einmarsch der Deutschen in Österreich veränderte dann ihr ganzes Leben: Gerade als Au-pair-Mädchen in London, kehrte sie nicht mehr nach Wien zurück. Ihr Studium musste sie abbrechen. Sie schloss sich ISK-Emigranten an und bildete mit ihnen eine Wohngemeinschaft in einer Vorstadt von London. Ihr Geld verdiente sie in einem vegetarischen Restaurant, dessen Erträge der Widerstandstätigkeit gegen das NS-Regime zugute kamen. Zusammen mit ihrem Lebensgefährten und Leiter des ISK, Willi Eichler, klärte sie in Reden und Schriften über die Zustände im Nazi-Deutschland auf.

Sofort nach dem Zweiten Weltkrieg kehrte das Paar in das zerstörte Deutschland zurück. Wie viele Mitglieder des 1945 aufgelösten ISK, schlossen sie sich der SPD an und nahmen bald wichtige Funktionen ein. Susanne Miller leistete entscheidende Vorarbeiten zum Godesberger Programm der SPD, mit dem sich die Partei seit 1959 nicht mehr als marxistische Klassenpartei, sondern als Volkspartei exponierte. Die Arbeit am Parteiprogramm inspirierte Susanne Miller, die vernachlässigte Geschichte der Arbeiterbewegung weiter zu erforschen. So nahm sie im Alter von 45 Jahren ihr Studium der Geschichtswissenschaft wieder auf und promovierte 1963 mit einer Arbeit zur Entwicklung der Parteiprogramme der SPD. Viele weitere Bücher zur Geschichte der Arbeiterbewegung stammen aus ihrer Feder, darunter der 1974 mit Heinrich Potthoff verfasste Klassiker Kleine Geschichte der SPD.

Bis zu ihrem Tod berichtete sie als Zeitzeugin gerne von ihren Erfahrungen. Mittlerweile war sie eine der bekanntesten Persönlichkeiten der Geschichtsschreibung der Arbeiterbewegung, sie beanspruchte aber nie eine "wertfreie" Historikerin zu sein. Obwohl sie der Frauenarbeit in der SPD wesentliche Impulse gab, wollte sie mit Feministinnen wenig zu tun haben, vielmehr war es ihr ein Anliegen, Schulter an Schulter mit den Genossen zu kämpfen. Selbst betrachtete sie sich immer als "Antikommunistin", suchte aber den Dialog mit WissenschaftlerInnen aus verschiedenen Ländern und unterschiedlicher Weltanschauungen. Der Titel ihrer Autobiographie, in dem sie im Alter von 90 Jahren und fast erblindet, mit Hilfe von Antje Dertinger ihre Erinnerungen festhielt, ist zugleich Bilanz ihres eigenen Lebens: So würde ich noch einmal leben. Am 1. Juli ist Susanne Miller gestorben.

Dr. Gisela Notz ist wissenschaftliche Referentin der Abteilung Sozial- und Zeitgeschichte bei der Friedrich-Ebert-Stiftung.

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