Der ungeheure Reichtum des Web 2.0 besteht in den schier unerschöpflichen Inhalten, mit denen die Nutzer es füttern. Genau das definiert das Web 2.0: von den Nutzern erzeugter Inhalt. Das Buch Infotopia. Wie viele Köpfe Wissen produzieren von Cass R. Sunstein handelt allein davon, wie man die Informationsressourcen des Web 2.0 systematisch anzapfen könnte, also seine User. Sunstein ist Jurist und Politikwissenschaftler, Professor an der Harvard Law-School und inzwischen auch Leiter des Amts für Information und Regulation in der US-Administration des Präsidenten Barack Obama.
Sunstein beschreibt ausführlich, warum herkömmliche Prozesse der Entscheidungsfindung und Informationsgewinnung oft scheitern: nämlich wegen bestimmter gruppendynamischer Pro
ischer Prozesse, Hierarchien, Voreingenommenheiten oder wegen der Geschlossenheit von Expertengruppen. Mit einem Wort, gewisse Routinen und sekundäre Einflüsse verhindern Kreativität. Es fehlen externe Blicke, überraschende Beobachtungen, sperrige Meinungen.Und Sunstein findet Abhilfe im Netz: „Das Internet eröffnet in dieser Hinsicht zahllose neue Möglichkeiten (…). Hierzu gehören groß angelegte Befragungen, Diskussionsforen, Prognosemärkte, Bücher und Ressourcen, die von allen bearbeitet werden können, sowie offene Partizipationsmöglichkeiten in Kombination mit verschiedenen Verfahren des Filterns und Sortierens.Mit anderen Worten: Cass R. Sunstein möchte Information in Form eines Netzwerks organisieren, sozusagen nach dem Modell eines Wiki. Man staunt ein wenig. Entsteht Wissen nicht längst in Netzwerken, an denen viele Menschen mitarbeiten - ein Gebäude, an dem durch Kritik, Diskussion und Innovation Stockwerk um Stockwerk fortgebaut wird? Mit Sicherheit lassen sich mit den Möglichkeiten des Web 2.0 da noch einige Fortschritte erzielen. Und Sunstein erörtert bestimmte Verfahren und Möglichkeiten, wie sich beispielsweise Wikis dabei einsetzen ließen. Doch alles in allem: ist das so umwerfend neu, gar utopisch beflügelt?Konformismus und VoreingenommenheitMan versteht vielleicht besser, worum es Sunstein geht, wenn man eines seiner Zentralbeispiele für misslungene Informationsauswertung betrachtet, nämlich den Bericht des Senate Select Committee on Intelligence aus dem Jahre 2004. „Dieser Bericht beschuldigt die CIA ausdrücklich des Gruppendenkens, durch das deren Prädisposition, im Irak eine ernstzunehmende Bedrohung zu erkennen, dazu führte, dass weder alternative Möglichkeiten weiterverfolgt noch die Informationen der Beschäftigten zur Kenntnis genommen und genutzt wurden.“Anders gesagt: Dieser Bericht wirft der CIA nichts anderes als Konformismus und Voreingenommenheit vor. Der Geheimdienst hat sich dem politischen Druck gebeugt und schlicht und einfach seinen Amtsauftrag nicht erfüllt.Glaubt Sunstein nun im Ernst, die CIA hätte sich via Internet externe Kritiker oder Experten zuschalten müssen, um der Falle des Gehorsams zu entgehen? Glaubt er wirklich, das wäre eine Frage von unbekannten oder unerwünschten Informationen gewesen? Man möchte den Kopf schütteln über soviel Naivität.Doch nehmen wir das Beispiel mal einen Moment Ernst, dann zeigt sich etwa ganz anderes, dann beschreibt Sunstein eine Welt, die an ihrem Konformismus, an ihren Zwängen, an ihrer Einseitigkeit erstickt und Zweifel unter Strafe stellt. Genau wie das Beispiel der systematischen Kriegsvorbereitungen gegen den Irak schön zeigt: Jeder hat wissen können, dass es keine Beweise für Massenvernichtungswaffen im Irak gab, jeder hat sehen können, dass die angeblichen Beweise entweder nichts bewiesen oder auf geradezu plumpe Weise gefälscht waren. Jeder an seiner Stelle, ob in der Politik, im Journalismus oder im Heer der militärischen und außenpolitischen Experten hat das gesehen und eben nicht sehen wollen.Man braucht keine Wikis und keine komplizierten Ausflüge ins Web, um zu verstehen, dass, selbst wenn es im Irak Anzeichen für Massenvernichtungswaffen gegeben hätte, die USA kein Recht auf diesen militärischen Überfall gehabt hätten. Es gab nie ein Informations- oder Wissensproblem. Es gab und gibt etwas anderes: eine Welt, die in konformistischen Routinen, neurologisch gesprochen: in einer Art hyperaktiven Stupor erstarrt ist.Im Grunde genommen sucht Sunstein fast verzweifelt, nach einer modernisierten Öffentlichkeit, die der Realität gewachsen ist. 280 Seiten lang grübelt er in Wahrheit darüber, wie man wieder unerlaubte oder unerwünschte Informationen ins System schmuggeln könnte, geht es Sunstein weniger um Wissensnetzwerke, sondern insgeheim um eine sehr viel komplexere Fragestellung: Warum können wir Probleme nicht lösen, die wir durch und durch durchschauen?So gesehen sucht er im Web 2.0 nicht Wissen, nicht einmal Information, sondern neue Prozesse kommunikativer Vernetzung: Wie kommunizieren wir, damit wir eine Welt hervorbringen, in der wir uns und die Welt verstehen?Das könnte ungefähr auch die Frage sein, die sich Stefan Münker in seinem Buch: Emergenz digitaler Öffentlichkeiten. Die sozialen Medien im Web 2.0 stellt. Münker untersucht, ob die von Jürgen Habermas definierte Öffentlichkeit im Web 2.0 nicht viel besser funktioniert als in der Sphäre der bürgerlichen Öffentlichkeit. Und tatsächlich entdeckt Münker im Web 2.0 eine neue Form von Öffentlichkeit, die sich durch bestimmte qualitative Unterschiede abhebt von der Öffentlichkeit, die wir kennen.Attraktiv für junge LeuteBei Habermas gab es auf der einen Seite die Bevölkerung, auf der anderen Seite die Machtzentren und dazwischen eine institutionalisierte Sphäre der Öffentlichkeit als Presse, Radio etcetera. Während „die Öffentlichkeit, die sich im Web 2.0 generiert, nicht zwischen den Sphären steht, sondern in der Sphäre der Bevölkerung selbst entsteht“.Man könnte also sagen, die sozialen Medien des Web 2.0 sind sozialer als die Sozialität der sonstigen Gesellschaft. Und genau das macht sie ungeheuer attraktiv. Sowohl für junge Leute, die über bestimmte Themen bloggen oder sich in Facebook einen Freundeskreis schaffen. Das macht sie aber auch attraktiv für Theoretiker wie Sunstein.Öffentlichkeit meint Selbstbeobachtung der Gesellschaft, wie der Soziologe Dirk Baecker präzisiert hat. Doch bietet das Web 2.0 nun wirklich eine Selbstbeobachtung der Gesellschaft oder sind es nicht nur Partikel vieler Gruppen, die sich und die Welt beobachten, und die fragmentiert durch die Weiten Digitalistans schweben?Dazu sagt Münker, dass auch die Einheit der klassischen Öffentlichkeit immer schon ein theoretisches Konstrukt war. „Das war vor hundert Jahren schon so, dass über die unterschiedlichen Zeitungen unterschiedliche Öffentlichkeiten entstehen.“So gesehen bietet das Web 2.0 zwar eine größere Beteiligung, um den Preis einer Vervielfachung der Öffentlichkeiten. Und das ist die Frage die Stefan Münker dann nicht mehr in seiner durchaus lesenswerten Untersuchung verfolgt: inwieweit nämlich die neuen digitalen Öffentlichkeiten die Rolle einer Selbstbeobachtung der Gesellschaft besser erfüllen – oder ob sie nicht nur eine relativ konfuse Beteiligungsmetapher vor sich hertreiben. Ebensowenig wie die Frage, ob das Netz nicht im stetigen overload an sich selbst erstickt.Mit anderen Worten, das Web 2.0 ist einstweilen noch eine riesige Baustelle, ebenso überkomplex und desorientiert wie die überkomplexe und hyperdynamische Welt, deren Wunden sie heilen soll. Web 2.0 funktioniert einstweilen vor allem als Geschäftsmodell. Und die eher akademisch inspirierten Erneuerungserwartungen ans Netz sagen mehr über die dramatische Neige alter Verständigungsmodelle als sie intelligente neue Kommunikationen beschreiben könnten.
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