Im neuen Trendlook sitzt Dario in seinem ungeheizten, kalten WG-Zimmer: Daunenjacke, mit einer dicken Decke umwickelt. Ein absolutes Must-have in diesem Wintersemester. Wie der Geowissenschafter an der Ruhr-Universität Bochum mutieren derzeit viele Studis in ihren Wohnungen zu flauschigen Mumien, denn, so viel ist klar: Geheizt wird in den WGs der Republik so wenig wie möglich. An die künftigen Leistungsträger:innen dachte das politische Berlin ohnehin erst beim dritten Entlastungspaket, 200 Euro Sofortzahlung für die steigenden Energiepreise wurden nachgereicht. Viel zu wenig, wie sich in Darios WG zeigt: Gemeinsam mit seinen zwei Mitbewohnerinnen stand er gerade vor einer Nebenkostennachzahlung von 800 Euro, die noch in diesem Jahr fällig war. Von den 200 Eu
An die Unis, frieren, los!
Semesterstart In den klammen WGs der Republik bleibt es kalt. Finden Studierende an den Universitäten Wärme? Über einen fast vergessenen Ort des Lernens, der Sammlung und des Protests

Ob es sich so vielleicht warm halten lässt diesen Winter?
Illustration: der Freitag
Euro noch keine Spur, wann und wie der Zuschuss ausgezahlt wird, ist noch unklar. Schon während der Pandemie offenbarte sich, dass Studierende im Denkhorizont von Politiker:innen ganz hinten platziert sind.Nun hätte das Semester endlich wieder in gewohnter Form starten sollen: Die Erstis werden von ihren Fachschaften empfangen und herumgeführt, und die Universitäten füllen sich mit Leben. „Es ist ein gänzlich anderes Gefühl, zur Uni zu kommen und zu sehen, dass der Campus voller Menschen ist“, erzählt Karla. Sie studiert an der Universität Leipzig Politikwissenschaften und ist im SDS aktiv, den Studierenden der Linkspartei, die sich den Namen Sozialistisch-Demokratischer Studierendenverband gegeben haben. Im Wintersemester vor der Pandemie kam Karla an die Uni, bisher hat sie also erst ein Semester im Regelbetrieb und danach fünf Semester mit mehr oder weniger digitalem Unterricht hinter sich.Auch wenn die Lehre über Zoom einige Vorteile gehabt haben mag, etwa Zeitgewinn durch Wegersparnis, zufrieden war damit am Ende eigentlich niemand. „Da ist ein unerhörter Schaden angerichtet worden“, erklärt Constanze Baum, die als geschäftsführende Mitarbeiterin am Institut für Deutsche Literatur an der Berliner Humboldt-Universität für Studienkoordination und -fachberatung zuständig ist. „Ich höre immer wieder, dass Studierende in den drei Jahren ihre Lebens- und Studienorganisation, die sich unter Umständen auf sechs Quadratmetern Jugendzimmer bei den Eltern abgespielt hat, verständlicherweise nicht auf die Reihe bekommen haben.“Shaming am SchreibtischDie soziale Schere unter den Studierenden, so ihr Eindruck, sei noch größer geworden. „Wir haben diejenigen im System, die ohnehin schon gut ausgestattet sind über die Eltern, bis hin zur Eigentumswohnung. Andere stehen vor Schulden und wollen nun möglichst schnell aufholen, unter extremem Selbstdruck, das ist gerade in den Geisteswissenschaften problematisch.“ Viele blieben aufgrund finanzieller oder psychischer Probleme auf der Strecke. „Wir haben es ja auch mit einer Generation zu tun, die sich viel mit Shaming auseinandersetzt. Aber viele trauen sich nicht, Probleme anzusprechen.“Auch deshalb betonen die Universitäten aktuell unisono, dass sie die Präsenzlehre trotz Energiekrise mit allen Mitteln aufrechterhalten wollen. Die Bundesnetzagentur hat sie wie Schulen und Krankenhäuser zur kritischen Infrastruktur erklärt. Dass es im Verlauf des Semesters nicht doch noch zu einer Rückkehr an die Bildschirme kommt, ist nicht auszuschließen, denn auch an den Hochschulen muss Energie gespart werden. Und so haben viele Studierende in den vergangenen Wochen von ihren Präsident:innen oder der Verwaltung E-Mails erhalten, in denen Temperaturabsenkungen, verkürzte Öffnungszeiten der Einrichtungen oder sogar auf vier Wochen verlängerte Winterferien angekündigt werden. Das bedeutet nicht nur Unterrichtsausfall, sondern auch die Schließung von Arbeitsräumen und Bibliotheken. Also genau die Räumlichkeiten, in denen sich die Studierenden aufwärmen könnten.Angesichts des Umgangs mit Studierenden in der aktuellen Krise ist es kaum verwunderlich, dass das Studium an Attraktivität verloren hat. Im November 2021 teilte das Statistische Bundesamt mit, dass die Zahl der Studienanfänger:innen das vierte Jahr in Folge gesunken sei. Haben sich im Winter 2017 noch 518.700 Erstsemester an den Hochschulen eingeschrieben, entschieden sich im Wintersemester 2020/21 471.200 junge Menschen für ein Studium. Der Trend, so die Beobachtung von Constanze Baum, setze sich auch in diesem Jahr fort, und zwar fächerübergreifend. Statistische Zahlen liegen bundesweit noch nicht vor, aber im bislang überbuchten Studiengang Deutsch/Deutsche Literatur (Lehramt und Bachelor/Master) mit Numerus clausus führe dies dazu, dass bis in den November im Losverfahren Studierende zugelassen werden. Auch im weiterführenden Masterstudiengang seien nicht alle Plätze besetzt.Das werde nicht nur die Schulen in Bezug auf den Nachwuchs von Lehrer:innen weiter in Bedrängnis bringen, so Baum, sondern auch Auswirkungen auf die Fachqualität haben, weil man nicht mehr aus einem großen Pool schöpfen könne. Den Rückgang erklärt sie sich so: „Die Suche nach Lebensorientierung und Sinnhaftigkeit des Studiums ist nach Corona und nun zusätzlich durch den Ukraine-Krieg sehr groß. Viele suchen nach einem Anker. Die Generation, die jetzt studiert, verfolgt nicht mehr unbedingt einen Lebenslauf wie den meinen. Der Weg einer wissenschaftlichen Karriere ist mühsam, und die Chancen, einen einträglichen Beruf daraus zu machen, sind sehr gering.“Und viele junge Menschen können sich das Studium schlicht nicht mehr leisten. „Mit dem zweiten Job komme ich jetzt finanziell zurecht“, erklärt Dario. Er betreut die Webseite für ein Unternehmen und arbeitet nun auch in einer Kletterhalle. Trotzdem weiß Dario genau, was im Aldi teurer geworden ist: Milch und Eier zehn, Brot 20 Prozent.„Momentan geht es noch“, meint Maya, die Psychologie an der Universität Erfurt studiert. „Das liegt aber daran, dass meine Eltern mich finanziell unterstützen und in Erfurt die Mieten noch recht niedrig sind.“ Bisher bleibt auch ihre WG kalt. Geplant ist, nur die Küche zu heizen. „Mal schauen, ob und wie lange wir das durchhalten.“ Bereits vor der Krise hat sie sich nachhaltig und dennoch preisgünstig ernährt. Sie kennt alle Unverpackt-Läden, die „Zahlen nach den eigenen Möglichkeiten“ anbieten. „Aber das fällt inzwischen häufig weg, weil die Nachfrage so stark gestiegen ist.“Viele Studierende hoffen auf günstiges Essen in der Mensa und auf das Aufwärmen in den Bibliotheken, Cafés und öffentlichen Räumen der Universität. An manchen Unis klappt das, auch die Universität Freiburg hat den Plan einer zweiwöchigen Winterpause nun zurückgenommen. Die Ruhr-Uni Bochum, an der Dario studiert, hat einen Plan vorgestellt, der genau auflistet, wo und wie Energie gespart werden soll. „Du regelst das“, steht auf Plakaten überall auf dem Campus. Als ob die Studierenden die Krise meistern könnten und am Ende selbst schuld wären, wenn sie zu Hause, eingemummelt in Decken, per Zoom wieder an Lehrveranstaltungen teilnehmen müssen. Constanze Baum setzt auf eine einvernehmliche Lösung mit der Universität. „Vielleicht können wir uns bei 21 Grad treffen und ein paar Wärmestuben einrichten“, hofft sie.Maya in Erfurt hat weniger Glück. Die Universität steckt schon länger in einer finanziell schwierigen Lage und wird im Winter länger schließen. „Bereits jetzt fühlt es sich in den Bibliotheken kalt an“, sagt sie. Und sie sei wirklich nicht empfindlich, setzt sie hinzu. Aktuell schreibt sie ihre Masterarbeit. Ob es Fristaufschub gibt, wenn sie während der Winterferien länger nicht in der Universität arbeiten kann, weiß sie noch nicht.„Normalerweise“, sagt Studienfachberaterin Baum, „ist die Studienzeit eine Phase der Selbstfindung, eine Zeit, in der man sich ein bisschen zurückfallen lassen und das Leben genießen kann. Corona hat das abgetötet, es verstreicht Zeit, die man nie mehr aufholen kann. Das symbiotische System Universität funktioniert einfach nicht mehr.“ Viele Studierende beklagen, von den Universitäten alleine gelassen zu werden. Die Studierendenvertretungen AStA und StuRa würden sich zwar bemühen, aber viele Universitäten verstünden sich wohl eher als reine Lehrinstitution und vergäßen ihre Funktion als sozialer Raum.Denn Hochschulen sind auch Begegnungsstätten. Hier treffen junge Menschen aufeinander, die meisten festigen in der Studienzeit ihre politischen Überzeugungen, haben Zeit, sich zu engagieren, Vorträge zu hören und vieles mehr. „An der Uni ist immer Politik. Überall hängen Plakate in den Gängen, um die kam man vor der Pandemie überhaupt nicht herum“, erklärt Dario. Insofern waren die Universitäten auch immer ein Ort des Protests und des Widerstands. Seit Corona ist davon allerdings nicht mehr viel zu spüren. Die Studierenden hatten keinen entscheidenden Anteil an den Protesten gegen die Corona-Schutzmaßnahmen, die sie in vieler Hinsicht grundlegender betrafen als andere Bevölkerungsgruppen. Sie mussten mehr Einschränkungen hinnehmen und sie waren in ihrer Lebensplanung betroffen. Doch auch im Hinblick auf die Krisenpolitik der Ampel-Regierung ist von den angehenden Akademiker:innen wenig zu hören. Dabei werden sie das, was der Staat derzeit auf die Spur bringt – oder eben nicht, wie eine nachhaltige Klimapolitik –, irgendwann auslöffeln müssen.Generation KlimastreikKarla, die in Leipzig politisch aktiv ist, hat die Veränderungen während der Pandemie genau beobachtet. „Natürlich ist nicht alles zusammengebrochen, vieles lief online weiter. Aber es war weniger.“ Die Vereinzelung während der Pandemie hat es schwieriger gemacht, sich in Gruppen zu organisieren. Das galt auch für Fridays for Future, die stark an den Universitäten verwurzelt sind. Wer vor Corona an die Uni kam, stieß überall auf Versammlungsangebote und Diskussionsrunden. Doch der Austausch mit Kommiliton:innen, etwa nach den Kursen, fand nicht mehr statt. Am Ende einer Veranstaltung schloss sich nur das Programm zur Videokonferenz und die Studierenden waren sofort zurück in ihren Wohnungen.Diesen politischen Raum wollen studentische Organisationen wie der SDS in Leipzig nun wieder aktivieren. „Wir organisieren dieses Jahr wieder die Kritischen Einführungswochen, bei denen wir herausfinden wollen, was die Studis brauchen“, sagt Karla. Die Vorgespräche finden im Privaten bereits statt. Jetzt geht es für den SDS darum, diese öffentlich zu machen, zu bündeln und produktiv zu nutzen.Denn im Winter beginnt eine Generation zu studieren, die geprägt ist von den Klimastreiks, die regelmäßige Corona-Tests vor Schulbeginn, Unterricht bei offenen Fenstern und unzureichende Vorbereitung auf das Abitur über sich hat ergehen lassen müssen. Die angehenden Studierenden siedeln nun über in feucht-kalte WG-Zimmer und wissen nicht, ob sie die Nebenkostenabrechnung stemmen können. Und sie treffen auf eine Dozent:innen- und Professor:innenschaft, die durch drei Jahre „Katastrophenmanagement“, wie Baum sagt, ziemlich ausgepowert ist.Ob das Semester erstmals wieder vollpräsent absolviert werden kann, steht in den Sternen, denn Corona ist ja nicht überwunden. „Die Universität muss präsent laufen“, ist Baum überzeugt. „Wir müssen wieder das Gefühl bekommen, dass hier der Ort ist, wo Studium stattfindet.“ Und die Studierenden das Gefühl, dass hier der Ort ist, an dem man sich treffen und zusammenschließen kann. Grund zum Protest haben sie genug. Ende Oktober organisiert der SDS einen Kongress. „Wir brauchen den System Change“, sagt Karla, „und nicht nur an den Unis.“
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