Serie statt Sex

Was läuft Sind Fernsehserien ein Sexersatz, und wenn ja, was folgt daraus? Über Netflix-Paare, „Shades of Blue“ und Pflegezusatzversicherungen. Spoiler-Anteil: 3 Prozent
Ausgabe 45/2016

Im Café saß letztens neben mir ein junges Paar, das sich intensiv und erregt – nein, nicht küsste – über die Charaktere und Plotpoints der sechsten Staffel von Game of Thrones unterhielt. Das Paar hatte die ganze letzte Nacht offensichtlich – nein, nicht Sex gehabt – mit Binge-Watching verbracht. Die beiden tauschten ihre Gedanken aus, erzählten sich das Gesehene ein ums andere Mal und glühten regelrecht. Ich hielt es irgendwann nicht mehr aus und musste mich in das Geschehen einschalten, dabei bin ich von Haus aus gar keine Swingerin. Als ich das Café verließ, wusste ich: Dieses Paar würde noch recht lange recht glücklich miteinander sein, denn noch war nicht jede Nuance von Sansa Starks Wandlung vom Backfisch in eine rachsüchtige Machtpolitikerin ausdiskutiert, und auch Jon Snows ungewisse familiäre Herkunft brannte in ihnen wie ein Feuer.

Was uns zu der Frage führt: Sind Fernsehserien ein Sexersatz, und wenn ja (laut einer quantitativen Studie des Statistikers David Spiegelhalter von der Universität Cambridge), was folgt daraus? Man spricht schon von „Netflix-Paaren“, die statistisch gesehen nur noch drei Mal im Monat Sex miteinander haben. Vor 20 Jahren, zu Zeiten von Dallas, als am Dienstagabend in der ARD um 22.30 Uhr Schluss war mit den Intrigen von J. R. auf der Southfork-Ranch, kamen Pärchen auf einen Mittelwert von sechs Mal monatlich – was damals bereits als scheintote Frequenz galt.

Der Kondomhersteller Durex jedenfalls startete die #DoNotDisturb-Offensive, die dazu aufruft, im Urlaub eine Smartphone-Pause einzulegen, um lieber den Partner als das Telefon zu berühren. Doch wenn schon die jungen Menschen zum Sex ermahnt werden müssen, dürften die Erfolgsaussichten der Kampagne bescheiden sein. Sollte der Trend anhalten, werden wir im Jahr 2030 – in 14 Jahren schon – statistisch gesehen gar keinen Sex mehr haben und Kondome nur noch aus dem Apothekenmuseum kennen.

Immerhin stabilisiert und harmonisiert der Serienkonsum die Liebesbeziehungen, auch das ist ein Ergebnis der Studie, und übernimmt somit einige (Neben-)Funktionen der Sexualität. Die neue geschwisterliche Harmonie unter „Netflix-Paaren“ findet in den populären Serien selbst keine Thematisierung, im Gegenteil: Unzählig viele Produktionen inszenieren Sex als Ausdruck von Macht, Exotik, Lebenslust und Gier. Nur bei den Nerd-Serien, die von der „IT-Crowd“ erzählen (Mr. Robot interessiert sich seit der zweiten Staffel sogar nicht mehr für die Liebe), ist chronische Sexlosigkeit Teil der Normalität.

Einen Schritt weiter erscheinen mir dagegen die Werbefilme, mit denen RTL seine neue Cop-Serie unterbrach. In Shades of Blue versucht Jennifer Lopez, sich als Seriendarstellerin zu etablieren, sie spielt eine alleinerziehende Polizistin, die vom FBI erpresst wird, ihren korrupten, aber auch väterlichen Einsatzleiter zu verpfeifen. Lopez produzierte die Serie und engagierte den Mafiafilm-Veteranen Ray Liotta (Good Fellas) für die Rolle des Gegenparts.

Der unterbrechende Werbespot der Württembergischen für eine Pflegezusatzversicherung war dann deutlich thrilliger als die Serie, in der harte Männer mit harten Bartstoppeln andere harte Männer zärtlich küssen dürfen und schlaue Frauen neben ihren Fältchen vor allem ihre prallen Brüste herzeigen müssen. Im Werbespot beobachtet ein Vater mit seinem kleinen Sohn eine alte, faltige Schildkröte, die Salat frisst. Sohn: „Wenn du mal alt bist, wer wird sich um dich kümmern?“ Vater: „Darum habe ich mich schon gekümmert.“ – „Musst du dann auch immer Salat essen?“ – „Ich hoffe nicht.“

Wem da nicht das Blut gefriert, der hat keine Fantasie, keine egoistischen Kinder oder eine Pflegezusatzversicherung. In der zweiten Shades-of-Blue-Werbepause keimte schon wieder die Hoffnung, denn das Publikum wurde über das Produkt Nestlé-Folgemilch informiert.

Mir scheint, dass die Cliffhangerdramaturgie, die zum Schluss jeder Folge den ätzenden Kick des Unauserzählten, Unbefriedigten, nicht zum Ende Gekommenen zelebrierte, letztlich sexualtriebfreundlicher gewesen sein muss als die schwelgerisch-epischen, ausgewalzten Erzählungen der Streamingdienstserien von heute, die einem so schön die Sofaexistenz wattieren. Die Firma Durex sollte besser Sex in Serienkostümierungen (Cosplay) propagieren und eine Game-of-Thrones-Edition herausbringen. Mit Drachenschuppen?

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Geschrieben von

Sarah Khan

Jg.71, Autorin, Gespenster-Reporterin, Michael-Althen Preisträgerin, aufgewachsen zwischen Protestanten u Pakistanern in Hamburg

Sarah Khan

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