Alfred C. Kinsey ist wieder kontrovers. Man kann es kaum glauben. Wieviel Kontroverse kann ein Zoologe aus den 1950er Jahren heute noch hervorrufen, selbst wenn er sich mit der menschlichen Sexualität beschäftigte? Liegt die sexuelle Revolution nicht schon längst hinter uns, vor allem in den Vereinigten Staaten, denen so gerne Prüderie nachgesagt wird? Der Sexforscher, der mit Akribie und empirischen Realitätssinn die sexuellen Gewohnheiten der Amerikaner aufzeichnete und dabei herausfand, dass Masturbation, Oralsex und vorehelicher Geschlechtsverkehr nicht die Ausnahme, sondern die Regel sind, sorgte während der ultrakonservativen McCarthy-Ära für Aufregung. Über 50 Jahre später aber ziehen republikanische Vereinigungen wie "Concerned Wome
omen for America" und Arbeitsgruppen für sexuelle Abstinenz wie "Abstinence Cleaninghouse" mit Protestveranstaltungen und denunziatorischen Presse-Erklärungen wieder gegen Kinsey zu Felde, als sei die Zeit zurückgedreht worden.Auslöser der Kontroverse waren The Inner Circle, der neue Roman von T. Coraghessan Boyle, der gerade als Dr. Sex in Deutschland erschienen ist, und Kinsey, der Hollywoodfilm von Regisseur Bill Condon, der Ende März in die deutschen Kinos kommt. Condons Film zeichnet das relativ sympathische Bild eines Wissenschaftlers, dessen außergewöhnliche Forschungswut als ein Reflex auf die intolerante Bigotterie seiner Zeit gegen ihre eigenen homosexuellen und sadomasochistischen Neigungen zu verstehen ist.Auch für T.C. Boyle, der sich auf die gleichen Quellen wie Bill Condon bezieht, wäre dies ein idealer Stoff - sollte man meinen. Denn kaum ein anderer Autor hat sich in genau recherchierten und mit einem Gespür fürs Surreale erzählten historischen Romanen bisher so sendungsbewusst mit den Bigotterien des bürgerlichen Amerika auseinandergesetzt. Zuletzt portraitierte er in Drop City (2003) eine Landkommune in den 1970er Jahren, in der sich Hippies und Trapper ideologische Grabenkämpfe lieferten. Wie immer gelang es ihm auch hier, der dominanten Mehrheitskultur gut unterfütterte, alternative Lesarten aufzuzeigen.Dr. Sex, sein Kinsey-Buch, jedoch liest sich mit einem gewissen Unbehagen. Das hat vor allem damit zu tun, dass der Roman den skandalträchtigen Facetten des Stoffes den Vorzug gibt. Aber auch die für Boyle ungewöhnliche Erzählperspektive sorgt für Knirschen im Prosagetriebe, das nicht so reibungslos und flink wie gewohnt läuft. Mit John Milk, einem fiktiven Assistenten Kinseys an der University of Indiana, führt Boyle einen Ich-Erzähler als Protagonisten des Romans ein, der unsicher, weltfremd und verbal zuweilen sehr unbeholfen ist. Mit Referenz zum klassischen Bildungsroman räsonniert Milk über seine schüchterne Adoleszenz, sein sexuelles und intellektuelles Erwachsenwerden und seine blinde Gefolgschaft gegenüber Professor Kinsey, kurz Prok, der ihn mit Charisma und Nachdruck zu seinem engsten Mitarbeiter macht und für die prekäre Aufgabe des Sexgeschichten-Sammelns ausbildet. Über 460 Seiten lässt sich so das Entstehen des sexologischen Forschungsprojekts mitverfolgen, das ungefähr 18.000 detaillierte Interviews über sexuelle Handlungen und Vorlieben führte, zwei weltweite Bestseller über Das sexuelle Verhalten des Mannes sowie dasjenige der Frau produzierte und so viel journalistische Aufmerksamkeit auf sich zog, dass Alfred C. Kinsey zu einem der bekanntesten Amerikaner wurde.Zum Anfang des Romans, der mit der Beerdigung des 62-jährig an Herzversagen verstorbenen Forschers beginnt, und sich danach als retrospektiver Erlebnisbericht präsentiert, wird darauf hingewiesen, dass es sich um eine Tonbandaufnahme des Ich-Erzählers handeln soll. Erzählerisch macht Boyle kaum etwas aus dieser Prämisse. Vielmehr lässt er sich zu einer gewissen Schlampigkeit hinreißen, die manchmal ins Triviale abgleitet. Nicht nur steht der Romancier seinem Erzähler wenig Reflexionsvermögen zu, sondern er entwirft auch ein Psychogramm, das mit vaterloser Kindheit, liebloser Mutterfigur, Selbstwertproblemen und Alkoholismus-Tendenzen recht simpel ausfällt. Milk, ein Milchbube im wahrsten Sinn des Wortes, scheint zudem literarische Ambitionen zu haben. So hat er die unangenehme Eigenschaft, sich rhetorische Fragen selbst zu beantworten, oder sich in eine Sprache zu flüchten, die bis an die Grenze zur Eigenpersiflage mit Klischees und tolpatschigen Metaphern gespickt ist. Momente sind hier "magisch wie in Liebesliedern" und Parfümdüfte halten den Mann noch "gepackt wie ein Schraubstock."Unglücklicher Weise spielt T.C. Boyle auch noch den konservativen Lobbyisten in die Arme, gegen die er sich in den letzten Monaten in vielen Interviews so vehement ausgesprochen hat. Ohne es zu wollen, bedient Dr. Sex letztlich die Bigotterien, gegen die er angetreten war. Wo Bill Condons Kinsey-Film mit Fingerspitzengefühl und verhaltenem Humor Stellung bezieht, wirft Boyle den Lesern in regelmäßigen Abständen wohlkalkulierte, Sex-Szenen-Häppchen vor, in denen Prok Aufforderungen zum Gruppensex ausspricht, der dann auf Film für die Institutsbibliothek festgehalten werden soll. Oder in denen er sich vor den Augen seiner Mitarbeiter eine Zahnbürste in seine Harnröhre einführt. Augenzwinkernd wird damit bedeutet, dass es mit der Sexforschung wohl doch eine recht praktische, sprich: egoistische Bewandtnis gehabt habe.So kam der Autor, im Gegensatz zum Regisseur Condon, bei den neuen Sittlichkeitsfanatikern auch relativ ungeschoren davon. Nur mit Dr. Judith Reisman - professionelle Kinsey-Hasserin, Beraterin des amerikanischen Gesundheitsministeriums und gern gesehener Gast bei den Fox News - unterhält er eine öffentlich ausgetragene Feindschaft. Reisman will Kinsey nicht nur für den moralischen Verfall Amerikas, sondern auch für Phänomene wie Pornografie, Geschlechtskrankheiten und sexuelle Straftaten verantwortlich sehen. Der zweifelhaften Expertin ist dabei jedes Mittel recht, in die Medien zu kommen und die konservativen Moralvorstellungen vor imaginären Angriffen zu verteidigen: Zuletzt bezeichnete sie Alfred Kinsey als den "sadistischsten und pädophilsten Wissenschenschaftspropagandisten der Geschichte" und verglich ihn mit Auschwitz-Arzt Josef Mengele. Mit wiedergefundenem satirischen Scharfsinn kommentierte Boyle kurz und bündig, dass Frau Reismann ihren Doktortitel wohl auf der Rückseite einer Cornflakes-Box gewonnen habe.T. Coraghessan Boyle: Dr. Sex. Aus dem Amerikanischen von Dirk van Gunsteren. Hanser, München und Wien 2005, 468 S., 24,90 EUR
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