Buchstäblich zeitgleich mit der zweiten Aufführung von Puccinis Oper Madame Butterfly letzte Woche in der Komischen Oper Berlin explodierten in Balis Vergnügungszentren islamistisch-terroristische Bomben; über deren genauere Motivation wissen wir zur Zeit noch nichts. Michel Houellebecq lässt seinen Roman über Sextourismus in Thailand (Plattform) damit enden, dass eine fundamentalistische Terroristengruppe einen Anschlag auf einen dieser Sextourismus-Clubs verübt, eines dieser Schandmale westlich-christlicher und männlicher Ausbeutung asiatischer ökonomischer Abhängigkeiten. Calixto Bieito, der zuletzt an der Komischen Oper Mozarts Entführung provozierend inszenierte (eine Produktion, die "man gesehen haben muss"!), ließ sich von
"!), ließ sich von Houellebcqs Roman zu seiner Lesart der Butterfly-Geschichte inspirieren. Nichts da vom traditionellen Japan mit Geisha-Tradition und Harikiri und rührend-sentimentaler Liebesgeschichte zwischen dem amerikanischen Seeoffizier Pinkerton und der verlassenen Cho-Cho-San - wir befinden uns vielmehr in einem Vergnügungsetablissement für eben jenen modernen Sextourismus irgendwo in Asien: alles billige Plastik, gefügige und gut trainierte Mädchen, Zuhälter, Kunden, der Konsul vertritt die Interessen der westlichen Macht - psychisches Elend mit Händen zu greifen im Glitzern der falschen Palmen und erotischen Badewannen.Herr Pinkerton will sich eine schöne Zeit dort machen, lässt gerne die gespielte Komödie einer Hochzeit über sich ergehen und erhält dafür den Sex, der ihm zuhause fehlt; seine einheimische Frau und Prostituierte erhofft sich davon den amerikanischen Pass, um dem perspektivlosen Elend des armen Landes zu entkommen. Als Pinkerton schließlich abfährt, glaubt sie an die Illusion seiner Rückkehr und dass er sie dann mit sich nehmen werde; zwar kommt er zurück, aber nur um das inzwischen dreijährige Kind abzuholen. Cho-Cho-San - und hier verlässt Bieito das Libretto - begeht keinen rituellen Selbstmord, sie wird vielmehr zur Furie, dreht durch, tötet das Kind und auch noch ihre ebenfalls hoffnungslose Freundin Suzuki, gleichsam eine moderne Medea: die vermeintlich süß-sentimentale Oper wird zur blutigen Tragödie nach klassischem Vorbild.Was hier passiert, ist höchst erstaunlich: Alles stimmt. Von den ersten Takten der kurzen Ouvertüre an hört man, dass es hier weder rührselig noch romantisch zugehen wird: Unheimliches, Düsteres wird angekündigt - und nicht enttäuscht. Zu keinem Zeitpunkt wird gegen diese Musik inszeniert. Je weiter sich die Handlung entfaltet, um so hörbarer wird ein ganz anderer, ein traditionell so nie gehörter Puccini: Wir hören eine große Leidensmusik, eine Passionsgeschichte, die bebilderte Handlung und die Sänger-Darsteller zwingen uns zu dieser unerwarteten Hörerfahrung. Es sind keine großen Star-Stimmen, wie wir sie aus den populären Klassiker-Aufnahmen kennen: Aber gerade weil sie das nicht sind - die sich von der kleinen Prostituierten zur großen Rächerin grandios steigernde Juliette Lee in der Titelrolle und der selbstgefällige texanische Spießer Pinkerton, wie ihn Marc Heller singt und spielt - weil sie uns nicht zum Schmelz und Schmalz der eingängigen Melodik verführen, erzählen sie ihre Geschichte um so überzeugender; und dasselbe gilt ohne Einschränkung auch für die mithandelnden Figuren, für den Konsul Tom Erik Lie, für die Suzuki der Susanne Kreusch (die im anschließenden Publikumsgespräch spannend und ehrlich berichtete, wie schwer sich alle anfangs mit Bieitos revolutionärem Konzept getan hätten, um sich dann aber doch überzeugen zu lassen und eine so stimmige Inszenierung zustande zu bringen), für den Bonzo von Jens Larsen ...Nach dieser Inszenierung wird man Puccinis Madame Butterfly nie wieder so hören und sehen wollen, wie früher - und das bestätigten die Protagonisten im Publikumsgespräch, die wahrscheinlich alle die Rolle später und anderswo wieder singen werden. Ich bin versucht zu sagen: Bieito hat dem Opernrepertoire hier ein neues Werk geschenkt. Das Orchester der Komischen Oper unter Daniel Klajner hat, trotz einiger anfänglicher Ungenauigkeiten, daran einen wesentlich Anteil.Und doch sollte man, wenn man über Oper spricht, nicht nur über die Oper sprechen: Denn darin besteht ja die eigentliche Herausforderung dieser Inszenierung, dass wir über die dort verhandelte Sache reden sollten: Nicht über Puccini und nicht über Madame Butterfly, sondern über den Skandal des Sextourismus, über die Zerstörung von Menschen, von Frauen in der Dritten Welt, die wir, in den reichen Industrieländern, uns globalisiert unterworfen haben und denen wir durch unseren Billigtourismus auch noch glauben, eine Wohltat zu tun. Acht Millionen jährlich sind es allein in Thailand, wie uns das materialreiche (noch immer aber viel zu zurückhaltende) Programmheft mitteilt, der männliche Prostitutionstourismus hat daran einen beträchtlichen Anteil - und nun weitet er sich aus auf die Philippinen, auf Kambodscha, Kuba, die Dominikanische Republik, auf Brasilien, auf afrikanische Länder ... Es ist wie eine Seuche, vor denen unsere liberale öffentliche Meinung die Augen verschließt und über die keine UNO Alarm schlägt. Nur bei Tsunami - und jetzt wieder in Bali - wird für einen kurzen Augenblick der Vorhang gelüftet und wir erfahren, wieviel "unbescholtene Bürger" sich da aufgehalten haben. Und soeben geht durch die Nachrichten, dass Berlin zur Fußballweltmeisterschaft ein großes Bordell für die erwarteten Fußballtouristen einrichten wird, damit Hooligans dort ihre Frustrationen loswerden können.Die Oper als Ort politischer Öffentlichkeit - das ist etwas Neues im Spielplan und sollte auch als solche Chance wahrgenommen werden. Allerdings ganz so neu wieder nicht: Puccinis Butterfly wurde zu ihrer Uraufführung 1904 bereits als ein Skandal empfunden - Politik, gar noch aktuelle Politik (die gewaltsame "Öffnung" Japans durch den amerikanischen Kommodore Perry lag erst wenige Jahrzehnte zurück) und kritisch, das gehörte nicht in den Musentempel der schönen Melodien. Jetzt ist es am heutigen Publikum, ob es sich Bieitos Herausforderung stellt und diese Madame Butterfly annimmt und ernst nimmt.
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