Shopping für alle

Geld In Deutschland boomen die Bürgerhaushalte. Das hilft der Demokratie und den Städten – wenn sie die Sache richtig anpacken

Rentner drängen sich um den Grill mit Rostbratwürstchen, Kinder toben in der Hüpfburg, und im voll besetzten Festzelt stimmt ein Alleinunterhalter die Dorf-Hymne an: „Im Kräutergarten der Erde“. Es ist Feuerwehrfest im thüringischen Großbreitenbach, der ganze Ort ist auf den Beinen und die Bürgermeisterin Petra Enders weiß, dass heute der perfekte Tag ist, ihre Einwohner reden zu lassen und selbst einmal zuzuhören. „Die Stadt gehört den Bürgern“, sagt sie nur, „und darum sollten sie auch das Sagen haben.“ Die 45 Jahre alte Frau träumt von Basisdemokratie. Vor drei Jahren hat sie in der 3.000-Einwohner-Kommune den Bürgerhaushalt eingeführt, ein Beteiligungsverfahren, bei dem die Bürger vorschlagen können, wofür die Kommune ihr Geld ausgeben soll. Das Ziel: Mehr Mitsprache und bessere Akzeptanz für politische Entscheidungen.

Im Feuerwehrhaus, einen Steinwurf vom Festzelt entfernt, empfangen Enders und einige Mitstreiter aus der Verwaltung die Großbreitenbacher zum „Tag des Bürgers“. An die Wände sind Pläne für künftige Projekte gepinnt. Jedem, der reinkommt, drückt die Bürgermeisterin einen gelben Zettel in die Hand. Die Großbreitenbacher sollen aufschreiben, was sie von den Vorschlägen halten und eigene Ideen zu Papier bringen: Eine Lehrerin wünscht sich einen Unterstand an der Bushaltestelle, zwei Grundschülerinnen neue Geräte für den Spielplatz. Mehrere hundert Vorschläge kommen so zusammen. „Die Stimmung in der Kommune hat sich durch den Bürgerhaushalt verändert“, sagt Enders. Statt immer nur zu motzen, würden die Großbreitenbacher jetzt ernsthaft überlegen, was gebraucht wird.

Deutschlandweit boomen Bürgerhaushalte, etwa 100 Kommunen versuchen sich zur Zeit daran, weitere 100 diskutieren die Einführung. Wähler, die mitreden statt meckern und für die Politik wieder etwas ist, bei dem es sich lohnt mitzumachen – die Idee ist verlockend: Sowohl für die Gewählten, die mit ihren Bürgern anstatt gegen sie kämpfen können, als auch für die Wähler, die sich endlich wieder ernst genommen fühlen. Mit dem Bürgerhaushalt verbinden sich seit seiner Erfindung große Hoffnungen. Und tatsächlich hat er im brasilianischen Porto Alegre, dem Geburtsort, vor allem den sozial Schwachen geholfen, politische Macht von den korrupten Eliten zurückzuerobern. Seitdem träumen seine Verfechter weltweit von einer „Demokratisierung der Demokratie“, von einem sanften Weg zu mehr Mitsprache für alle.

Weg mit der Proporz-Politik

Doch nur in wenigen Fällen funktioniert das so gut wie in Porto Alegre und Großbreitenbach. Rund zehn Jahre Erfahrung mit Bürgerhaushalten in Deutschland zeigen, dass das Verfahren zu oft nicht hält, was es verspricht. Zur basisdemokratischen Wunderwaffe taugt der Bürgerhaushalt in Deutschland allein schon deshalb nicht, weil er sich um die wirklich großen Verteilungsfragen gar nicht erst kümmert. Es geht um kleine Projekte vor der Haustür, nicht um große Investitionsentscheidungen und schon gar nicht um die großen Summen, die die Kommunen auf Weisung von Bund und Ländern sowieso bezahlen müssen. Zu oft werden Bürger erst mit mehr Mitspracherecht gelockt, bei ihrem demokratischen Gewissen gepackt und müssen dann enttäuscht feststellen, dass sie nur über Mini-Beträge mitbestimmen oder ihre Vorschläge gar nicht erst umgesetzt werden. Zu oft fehlt Bürgermeistern und Kämmerern auch der Wille, wirklich einen Schritt auf die Bürger zuzugehen. Scheitert der Bürgerhaushalt, schafft er Gräben statt sie zu überwinden.

So wie in Wiesbaden. Dort hat man die Bürger nur halbherzig beteiligt und ein Verfahren gewählt, bei dem sich am Ende nicht die besten Ideen, sondern der Lokalproporz durchsetzten. 2009 machten die 26 Ortsbeiräte in den Stadtteilen jeweils fünf Vorschläge für neue Projekte, für die besten stellte die Stadt eine Million Euro in Aussicht. Im Internet und per Post sollten die Einwohner jetzt abstimmen, welches Projekt sie gerne umgesetzt sehen würden. Nach eigenen Ideen wurden sie nicht gefragt. Dementsprechend war die Beteiligung: Nur etwa 2.000 Wiesbadener machten mit. Rechnet man die 200.000 Euro, die das Verfahren gekostet hat, auf diese Gruppe um, hat die Stadt für jede Meinungsäußerung, und sei es nur ein Klick, mehr als 80 Euro gezahlt.

Am Ende konnten einige sehr kleine Stadtteile und Interessengruppen hunderte Stimmen für ihre Vorschläge sammeln, andere Ortsbeiräte hatten sich hingegen kaum um die Mobilisierung ihrer Einwohner gekümmert – und erzielten klägliche Abstimm-Ergebnisse. Ein paar wenige Ecken von Wiesbaden hätten das ganze Geld abbekommen. Das gefiel der Politik gar nicht, deshalb brach die Stadtspitze ihr Versprechen kurzerhand und verteilte die ausgeschriebenen Millionen Euro doch wieder mit der Gießkanne, für jeden Stadtteil ein fester Betrag pro Einwohner. Alles Abgestimme und Gerede war für die Katz gewesen. „Die Herzen der Wiesbadener haben wir damit nicht erreicht“, sagt der CDU-Finanzpolitiker Torsten Tollebeek. Was man anders hätte machen können, weiß er aber auch nicht so genau: „Die Bürger scheinen sich nicht genug für Lokalpolitik zu interessieren.“

Unausgegoren, halbherzig

In Kassel wiederum scheiterte der Bürgerhaushalt – wie so oft – an einem unausgegorenen Konzept und an einem Bürgermeister, der zwar mit dem Versprechen in den Wahlkampf zog, einen Bürgerhaushalt einzuführen, das Vorhaben nach seiner Wahl aber so halbherzig anging, dass es am Ende scheiterte. Anstatt darauf zu warten, bis das Stadtparlament ein schlüssiges Konzept entworfen hatte, preschte das Stadtoberhaupt, der Sozialdemokrat Bertram Hilgen, 2006 mit einem Entwurf vor. Das knappe Konzeptpapier der Verwaltungsspitze habe „mehr Fragen aufgeworfen als geklärt“, sagt Roswitha Rüschendorf, die zu diesem Zeitpunkt als Parteilose für die Grünen in der Stadtverordnetenversammlung saß. Um welche Ausgabeposten soll es überhaupt gehen? Was soll mit den Bürgervorschlägen dann konkret passieren? Und wie sollen die Einwohner überhaupt zum Mitmachen motiviert werden? Als zu vier Veranstaltungen, bei denen über den Bürgerhaushalt informiert werden sollte, nur jeweils ein paar Dutzend Kasseler kamen, kündigte der Kämmerer an, dass man die Bürger künftig nur noch gelegentlich bei einzelnen Sachfragen einbeziehen wolle. Für Rüschendorf war die schlappe Beteiligung keine Überraschung. „Die Bürger müssen über die Medien und andere Kanäle dafür sensibilisiert werden, dass sie plötzlich mitreden können“, sagt sie.

Trotz solcher Negativbeispiele haben Bürgerhaushalte nach wie vor einen guten Ruf als mögliches Gegenmittel gegen die Politikverdrossenheit. Svetlana Alenitskaya, die sich bei der Bundeszentrale für politische Bildung mit dem Thema befasst, ist überzeugt, dass der Bürgerhaushalt sehr wohl dazu führen kann, „dass sich Bürger aufrappeln und wieder am gesellschaftlichen Leben teilnehmen.“ Dass Politiker sich häufig nur reinreden lassen, wenn es um Radwege, neue Ampeln und kommunales Klein-Klein geht, findet sie nicht weiter schlimm. „Für Außenstehende mag so etwas nichtig erscheinen, für die Beteiligten sind solche Dinge sehr wichtig“, sagt sie. Bei den Bürgerhaushalten gehe es darum, die Bürger überhaupt wieder für Politik zu interessieren und ihnen zu zeigen, wie der Haushalt funktioniert. Reden ist wichtiger als Geld, könnte man sagen. Wenn denn überhaupt jemand zum Reden da ist.

Viele Kommunen beklagen sich darüber, dass kaum ein Einwohner die Chance nutzt, über die Finanzen mitzuentscheiden. Dabei bringt der beste Bürgerhaushalt nichts, wenn die Bürger lieber zuhause bleiben. In dieses Bild passt eine Umfrage, die die Uni Potsdam 2007 über den Bürgerhaushalt in ihrer Stadt gemacht hat. „Bürgerhaushalt ohne Bürger?“, fragte sie im Titel – und beantwortet das auf den folgenden Seiten gleich selbst mit einem klaren Ja. Der Informationsstand der Bürger über das neue Beteiligungsverfahren sei „äußerst schlecht“, es werde zudem „vor allem genutzt von Vertretern der organisierten Bürgerschaft“. Zu diesem ernüchternden Fazit passt dann auch die Nachricht, dass eine Aktivisten-Gruppe im Oktober dieses Jahres die Bürgerhaushalts-Abstimmung manipulierte, indem sie einfach unter den Namen anderer Potsdamer abstimmte.

Rechenschaft ist Pflicht

Es ist gar nicht so einfach, einen funktionierenden Bürgerhaushalt auf die Beine zu stellen. Dass Politiker aller Parteien und auch der Kämmerer an einem Strang ziehen müssen, scheint dabei die größte Hürde zu sein. Weil falsche Versprechungen Frust fördern, muss von Anfang an klar sein, aus welchem Topf die Vorschläge finanziert werden – auch wenn es oft eher um kleine Beträge geht. Und die Politiker müssen Rechenschaft ablegen, sie müssen die Bürger darüber informieren, was aus ihren Vorschlägen wird. Problematisch ist auch, wenn der Bürgerhaushalt eine Eintagsfliege bleibt. Nur wenn das Verfahren auf Dauer angelegt ist, fühlen sich Bürger ernst genommen.

Doch viele Kommunen fragen ihre Bürger erst dann nach ihrer Meinung, wenn kein Geld mehr da ist. In der aktuellen Finanznot vieler Städte erscheint der Politik der Bürgerhaushalt als eleganter Schachzug, um die Verantwortung für schmerzhafte Einschnitte weiterzugeben. In Solingen etwa hat der Oberbürgermeister seine Bürger im Internet über Sparvorschläge abstimmen lassen, mit einem virtuellen Schieber konnten sie selbst die Grundsteuer erhöhen, direkt sehen, was sie das kostet und es dem Stadthaushalt bringt. Am Ende konnte Solingen so die 44 Millionen Euro einsparen, die es brauchte, um den finanziellen Kollaps zu verhindern – und wird in Nordrhein-Westfalen als vorbildliche Kommune vorgezeigt. Doch solange die Bürger nur entscheiden sollen, wo sie sich ins eigene Fleisch schneiden, ist es nicht weit her mit der Mitbestimmung. Erst, wenn die Politiker in Solingen und anderen Schulden-Kommunen beweisen, dass sie auch in guten Zeiten dazu bereit sind, kann davon die Rede sein.

In Großbreitenbach zeigt man unterdessen lieber vor, was aus den Ideen der Bürger geworden ist. An einer Wand in dem Feuerwehrhaus hängen bunt beklebte Papptafeln, auf denen sie alle aufgeführt sind: Das Freibad hat eine neue Abenteuerrutsche bekommen, ein leerstehendes Herrenhaus wird zu einer altersgerechten Wohnanlage umgebaut, und für die neue Skirollerpiste wird bereits gebaggert.

Die Wirtschaftsjournalisten Lenz Jacobsen und Johannes Pennekamp arbeiten zusammen im Kölner Journalistenbüro weitwinkel-reporter.de

Der digitale Freitag

Mit Lust am guten Argument

Verändern Sie mit guten Argumenten die Welt. Testen Sie den Freitag in Ihrem bevorzugten Format — kostenlos.

Print

Die wichtigsten Seiten zum Weltgeschehen auf Papier: Holen Sie sich den Freitag jede Woche nach Hause.

Jetzt kostenlos testen

Digital

Ohne Limits auf dem Gerät Ihrer Wahl: Entdecken Sie Freitag+ auf unserer Website und lesen Sie jede Ausgabe als E-Paper.

Jetzt kostenlos testen

Dieser Artikel ist für Sie kostenlos. Unabhängiger und kritischer Journalismus braucht aber Unterstützung. Wir freuen uns daher, wenn Sie den Freitag abonnieren und dabei mithelfen, eine vielfältige Medienlandschaft zu erhalten. Dafür bedanken wir uns schon jetzt bei Ihnen!

Jetzt kostenlos testen

Was ist Ihre Meinung?
Diskutieren Sie mit.

Kommentare einblenden