Die Jugend blickt wieder optimistisch in die Zukunft. Sie ist werte- und leistungsorientiert. Sie setzt auf Familie und ist bereit zu Engagement. Jugendliche im Jahr 2010 sind unbekümmert und trotzen düsteren Zukunftsszenarien und permanenter Krisen. Wer hätte gedacht, dass der Anteil optimistischer Jugendlicher trotz Dauerkrise von Weltwirtschaft bis Klimakatastrophe sogar auf 59 Prozent gestiegen ist? Alles ist gut. Das war die Deutung mancher meist konservativer Kommentatoren zu den Ergebnissen der aktuellen Shell-Jugendstudie.
Auf den ersten Blick mag eine solche Lesart verständlich sein. Bei näherem Hinsehen aber ist sie einseitig und äußerst schlicht. Das Heile-Welt-Gerede wird den Jugendlichen nicht gerecht und blendet Schattenseiten aus. Der gestiegene Optimismus der Mehrheit geht einher mit steigendem Pessimismus einer Minderheit. Die Gräben in Deutschland werden tiefer – schon in jungen Jahren. Die soziale Kluft zwischen integrierten und exkludierten Jugendlichen, zwischen Gewinnern und Verlierern wächst. 84 Prozent der Jugendlichen aus der obersten Herkunftsschicht sind mit ihrem Leben zufrieden oder sehr zufrieden, in der untersten Schicht sind es nur 40 Prozent. Ausgrenzung und Armut, fehlende Chancen und Perspektiven prägen ihr tägliches Lebensgefühl. Die gesellschaftlichen Trennlinien verlaufen weniger zwischen Alt und Jung, sondern zwischen drinnen und draußen, oben und unten.
Mustafa und Kevin gehen auf die Hauptschule, Christian und Max aufs Gymnasium. Alle leben in derselben Stadt, die einen in benachteiligten, die anderen in begünstigten Stadtteilen. Alle wissen um ihre ungleichen Chancen. Und selbst dann, wenn Mustafa zum Bildungsaufsteiger wird und das Abi mit derselben Note wie Max schafft, weiß er doch, dass er im Bewerbungsgespräch schlechtere Chancen hat. Die Jugendlichen von heute sind realistisch. Sie erleben, dass Aufstiegschancen und Bildungserfolg maßgeblich von der Herkunft und vom Geldbeutel der Eltern abhängen. In Deutschland so stark, wie in keinem anderen hochentwickelten Industrieland.
Die Bildungs-, Jugend- und Integrationspolitik der letzten Jahrzehnte hat hier vielerorts kläglich versagt. Das Milieu der jugendlichen Optimisten weiß seine besseren Chancen pragmatisch und leistungsorientiert zu nutzen: Es hat wenig Probleme im durchökonomisierten Bildungswesen, ist erfolgreich bei Turbo-Abi und Bologna-Uni. Die Pessimisten haben sich damit abgefunden, dass sie aus vererbter Armut nicht herauskommen, in der vermeintlichen „Bildungsrepublik Deutschland“ aussortiert und in Warteschleifen abgeschoben werden. Sie spüren, dass sie in beruflichen Sackgassen oder Arbeitslosigkeit landen. Sie resignieren angesichts der heutigen neuen „Ständerepublik“, in unserer blockierten Gesellschaft.
Die Jungen repolitisieren sich
Ein Teil der pragmatischen Generation gerät unter Druck. Deren Zukunftsangst und reale Perspektivlosigkeit sind niederschmetternd. Sie muss ein lauter Warnruf und Auftrag an die Politik sein. Kinder aus schwierigen Verhältnissen und chancenlose Jugendliche gehören endlich in den Mittelpunkt. Sie sind nicht nur Zukunft, sondern Gegenwart. Deshalb darf kein Jugendlicher zurückgelassen werden – nicht nur in Sonntagsreden, sondern im konkreten politischen Handeln. Es ist Aufgabe aller politischer Akteure auf allen Ebenen, Jugendlichen Perspektiven zu bieten, ihnen Aufstieg und Teilhabe zu ermöglichen. Die Grünen dürfen – trotz Rückschlägen wie in Hamburg – nicht nachlassen, für ein längeres gemeinsames Lernen und mehr individuelle Förderung aller Kinder und Jugendlichen zu werben. Selbst wenn dies gegenüber einzelnen Wählergruppen konfliktreich ist. Der wachsenden sozialen Spaltung von Klein auf müssen sich Politik und Gesellschaft in allen Lebens- und Politikfeldern entgegenstemmen. Tatenlosigkeit oder Fatalismus hieße, sich an der jungen Generation zu versündigen.
Eine andere Lesart der Studie war, dass wir es bei den Jugendlichen mit konservativen Biedermännern zu tun haben. Diese Schlussfolgerung ist mehr als fraglich. Die Bedeutung der Familie ist zwar einerseits ein weiteres Mal gestiegen. Drei Viertel der Jugendlichen braucht die Familie, um wirklich glücklich leben zu können. Bei Eltern finden sie Rückhalt und Unterstützung, erfreuliche 90 Prozent der Jugendlichen haben ein gutes Verhältnis zu ihnen. Die gestiegene Familienorientierung bedeutet aber andererseits nicht, dass die Jugend konservativer geworden ist. Denn sie hat zugleich kein Problem mit neuen Lebensformen wie „Ehe ohne Trauschein“ oder gleichgeschlechtlichen Partnerschaften. Das zeigt, dass Jugendliche traditionelle und moderne Werte miteinander kombinieren und problemlos vereinbaren. Die Lebenseinstellung der jungen Generation ist nicht von konservativen Werten, sondern von Pragmatismus geprägt. Sie kombiniert Werte der Achtundsechziger wie Selbstverwirklichung mit Leistungsbereitschaft und mit klassischen Einstellungen zu Familie und Freudschaft.
Die Jugendlichen von heute sind durchaus wertebewusst: Sie fordern verbindliche sozial-moralische Regeln ein, an die sich alle halten sollen. Dabei sind sie weder Idealisten noch Ideologen. Eine funktionierende gesellschaftliche Moral ist für sie vielmehr Voraussetzung, ihr Leben selbstbestimmt und unabhängig gestalten zu können. Ihr Lebensmotto lässt sich mit „Freiheit in Verantwortung“ überschreiben. Offenbar haben Jugendliche ein besonders ausgeprägtes Sensorium dafür, dass es hierzulande und global ungerecht zugeht. Aus ihrer Sicht verlangen Wirtschafts-, Finanz-, Klima- und Welthunger-Krise nach einer neuen Werteorientierung, klaren Regeln und einem fairen politischen Rahmen. Indiz dafür ist auch, dass 76 Prozent der jungen Generation den Klimawandel und die fortschreitende Umweltzerstörung für große oder sehr große Probleme halten. Und als Folge der Rezession zeigen sie ein starken Misstrauen gegenüber Wirtschaft und Finanzen, vor allem gegenüber den Banken.
Steigende Familien- und Werteorientierung hat mit einem biedermeierlichen Rückzug ins Private nichts zu tun. Im Gegenteil: Wir erleben das zarte Pflänzchen einer jugendlichen Repolitisierung. Laut Jugendstudie hat das politische Interesse junger Menschen zugenommen. Das ist eine positive Botschaft für die Demokratie und das Gemeinwesen. Schon der Bildungsstreik von Schülern und Studierenden im vergangenen Jahr war ein Vorzeichen für steigendes politisches Engagement. Auch an der Anti-Atom-Demonstration gegen die Laufzeitverlängerungen Mitte September in Berlin haben sich viele Jugendliche beteiligt. Das kann der Beginn und Kern einer neuen Protestkultur sein. Es wäre folgerichtig, wenn bei den Jugendlichen das politische Interesse durch das Atomthema noch weiter ansteigt. Aus Bildungsmisere und Energiefrage wird sich zwar so schnell keine breite Jugendbewegung herausbilden. Oder ein Ende der Politikverdrossenheit. Es zeigt sich aber ein ungeheures Potenzial an politischem Interesse und Aktivität. Bei 77 Prozent der Jugendlichen ist die Bereitschaft zu politischen Aktionen vorhanden. Von der Online-Petition bis zum Warenboykott ist vieles denkbar. Erfreulich ist auch, wie viele Jugendliche sich für soziale Belange an ihrem Wohnort einsetzen.
Selbstwirksamkeit motiviert
Um bei Jugendlichen Vertrauen in politische Institutionen und die Wirksamkeit ihres eigenen Engagements zu wecken, sind ihre Beteiligungsmöglichkeiten auszubauen. Nur so können Jugendliche an Entscheidungen mitwirken, die ihr Leben heute und morgen betreffen. Nichts ist motivierender als die Erfahrung von Selbstwirksamkeit. Aber auch beim gesellschaftlichen und politischen Engagement zeigt sich die soziale Spaltung. Wir können uns nicht damit abfinden, dass benachteiligte Jugendliche in Vereinen, Verbänden und Ehrenamt unterrepräsentiert sind. Demokratische Teilhabe an der Bürgergesellschaft darf keine Veranstaltung ab Mittelschicht aufwärts bleiben. Gezielte Ansprache, passende Angebote und Unterstützung sind hier überfällig.
Eine repolitisierte Jugend wird sich ihre Themen und Aktionsformen suchen – und unabhängig von Parteien aktiv. Denn Repolitisierung bedeutet nicht automatisch neue Lust auf Parteiarbeit. Und dennoch steigen die Chancen für Parteien, die sich für Jugendliche öffnen und die richtige Ansprache entwickeln. Die nah dran sind am Wertefundament der Jugendlichen, die ihre Themen glaubwürdig und werteorientiert vertreten. Die Parteien müssen sich auf allen Ebenen gerade für junge Leute öffnen, auch wenn diese widersprüchliche Interessen artikulieren. Sich öffnen ist anstrengend: alte Gewissheiten hinterfragen, liebgewonnene Rituale ändern, Grundsatzdebatten immer wieder führen und Konflikte zwischen Jung und Alt, Neu und Etabliert aushalten. Die Anstrengung ist es wert. Nur so lässt sich die Abkehr von Parteien stoppen. Mit Offenheit auf eine politischere Jugend zu reagieren heißt, ihre Lebensrealitäten zu respektieren. Offenheit bringt Chancen auf eine neue innerparteiliche Diskurs-Dynamik und eine generationengerechte Politik. Wenn das gelingt, würde es die Parteien revitalisieren, die politische Kultur beleben und Nachwuchs für die Demokratie gewinnen.
Kai Gehring ist Sprecher für Jugend- und Hochschulpolitik der Bundestagsfraktion der Grünen
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