Sich selbst ergründen

Literatur Patrick Modianos Roman traut sich an eine Erzählung, die beinahe ein literarisches Klischee ist
Ausgabe 07/2021
Mit „Unsichtbarer Tinte“ beschreibt Patrick Modiano die Suche nach Noёlle: In einer Pariser Detektei ist der Ich-Erzähler einst mit der Suche nach einer jungen Frau betraut worden, die von einem Tag auf den anderen verschwunden war
Mit „Unsichtbarer Tinte“ beschreibt Patrick Modiano die Suche nach Noёlle: In einer Pariser Detektei ist der Ich-Erzähler einst mit der Suche nach einer jungen Frau betraut worden, die von einem Tag auf den anderen verschwunden war

Foto: Edward Miller/Hulton Archive/Getty Images

Jemand ist verschwunden und soll gefunden werden – ein literarisches Motiv, das fast schon zum Klischee geworden ist. Bei Patrick Modiano aber entfaltet es einen solchen Sog, dass man seine Bücher nicht aus der Hand legen kann. Weil der Ich-Erzähler so ganz und gar in seiner Suche aufgeht, keine Mühen scheut, die einzelnen Puzzlesteinchen eines Schicksals zu finden und schließlich zusammenzusetzen, wird man angesteckt von seiner Atemlosigkeit, mit der Verheißung, ein Geheimnis zu ergründen.

Atemlosigkeit aber nicht in der Art des Erzählens. Die ist leise, wägend, fragend, in sich hinein lauschend, was im Gegensatz zu der Spannung steht, die der Autor aufbaut. Dass er „Erinnerung, Vergessen, Identität und Schuld“ thematisiere, lobte die Schwedische Akademie zur Verleihung des Literaturnobelpreises 2014. Modiano beherrsche „die Kunst der Erinnerung, mit der er die unbegreiflichsten Schicksale wachgerufen“ habe.

Aber das ist es wohl nicht allein. Unsichtbare Tinte zeigt den Autor, wie ihn seine Leser kennen und lieben. In einer Pariser Detektei ist der Ich-Erzähler einst mit der Suche nach einer jungen Frau betraut worden, die von einem Tag auf den anderen verschwunden war. Nicht einmal jenen Mann lernte er kennen, der den Auftrag erteilt hatte. Ein Karteiblatt in einer himmelblauen Mappe soll ihm genügen, die Spur aufzunehmen. „Wie jemand, der auf die Schwingungen eines Pendels starrt, bereit, die leisesten Wellen wahrzunehmen“, versucht er, die Atmosphäre des Viertels zu erspüren, wo Noёlle zu Hause war. Wenn er mit Leuten spricht, die sie womöglich kannten, muss er sich als guter Freund vorstellen. Durchschauen will er sie – „aus Neugier und auch aus dem Bedürfnis heraus, sie besser zu verstehen und die verhedderten Fäden ihres Lebens zu entwirren, denn sie erlebten ihr Leben aus allzu großer Nähe“. Aber geht es nicht auch dem Ich-Erzähler so in Bezug auf die eigene Person?

Modiano zu lesen, bedeutet sich auch selbst zu befragen, zu ergründen und dabei bereit zu sein, sich der Intuition zu überlassen. Die beschreibt der Autor als „eine Art unmittelbares Erkennen, das nicht zurückgreift auf Reflexion“. Warum beschäftigt ihn diese Noёlle nach vielen Jahren noch so? Was mag da in ihn selbst eingeschrieben sein mit „unsichtbarer Tinte“? Was verbirgt sich bei ihm unter dem Eis des Vergessens? Gibt es Spuren anderer Menschen in seinem Leben, die ihm nicht mehr gewärtig sind? Kann man sich schützen davor, dass sich auf diese Weise etwas verwischt, auslöscht? Das ist Patrick Modianos Lebensthema, dem er in wunderbar poetischer Sprache immer wieder folgen muss.

Was mit Noёlle geschah, darf hier nicht verraten werden. Aber bekennen möchte ich hier etwas, das mir nicht zur Ehre gereicht. Als während der Frankfurter Buchmesse 2014 die Verleihung des Literaturnobelpreises verkündet wurde, erhielt ich am Messestand des nd einen Anruf aus der Redaktion, ich möge doch schnell einen Text über Patrick Modiano verfassen. Es war sehr zur Unzeit. Verlagsgespräche und Verabredungen kreisten durch meinen Kopf, neue Bücher, die mir zum Rezensieren in die Hand gegeben waren. Ob sie nicht jemand anderes dafür finden könnten, meinte ich, Modiano sei mir nur dem Namen nach bekannt. „Aber du hast doch mindestens zweimal über ihn geschrieben“, bekam ich zu hören. Wie verblüfft war ich, als ich die Texte las, die mir wenig später übermittelt wurden. Die Romane Dora Bruder und Ein so junger Hund waren doch eine besonders eindrückliche Lektüre für mich gewesen. Wie tief sie sich in mein Gedächtnis eingegraben hatten! Allzu tief, sodass ich sie nicht gleich fand? Wie konnte mir die Peinlichkeit widerfahren, dass mir für einen Moment der Name des Autors abhandenkam? Mein Trost: Patrick Modiano hätte mich verstanden.

Info

Unsichtbare Tinte Patrick Modiano Elisabeth Edl (Übers.), Hanser 2021, 144 S., 19 €

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