Rund 1.800 Beamte, Angestellte und Arbeiter des Öffentlichen Dienstes demonstrieren vor dem Thüringer Landtag in Erfurt gegen Kürzungspläne der Landesregierung. Die Staatsdiener sollen eine Stunde länger arbeiten, das Urlaubsgeld soll gestrichen werden und das Weihnachtsgeld um die Hälfte reduziert. Da machen sie Rabatz, Polizisten mit Trillerpfeifen, Feuerwehrleute mit Signalhörnern, Lehrer mit Rasseln. Sie kritisieren die sozialen Verschärfungen, die mit den "sozialen Reformen der Agenda 2010" korrespondieren, und die Gewerkschafter weisen genau auf den Zusammenhang mit dem allgemeinen Sozialabbau hin, nur im Plenarsaal sind sie nicht zu hören.
Denn die Bannmeile um das Parlament wurde vergrößert, den "neuen baulichen Gegebenheiten an
nheiten angepasst", sagt der Gesetzentwurf der CDU-Fraktion. Die Demonstranten halten sich strikt an die Bannmeile, und deshalb hören die Abgeordneten sie nicht. Sie debattieren in aller Ruhe Haushaltssperren und europäische Verfassung. Ein Abgeordneter erklärt am Flurfenster: "Nur gut, dass wir eine Bannmeile haben!"Ganz offensichtlich gibt es einen Zusammenhang zwischen politischen Entwicklungsrichtungen und der Neigung herrschender Politiker zur "Sicherung" ihres Handelns durch Bannmeilen. Je mehr restriktive und unsoziale politische Entscheidungen geplant und getroffen werden, desto stärker ist auch der Wunsch der politischen Klasse, sich gegen die Reaktionen auf diese Politik abzusichern.Bannmeilen, von Politikern und Juristen als "befriedeter Raum" bezeichnet, verbieten Kundgebungen oder Demonstrationen in Nähe eines Parlaments. Diese Einschränkung des Versammlungsrechts ist aber nur dann verfassungsgemäß, wenn ein anderes Rechtsgut dies unbedingt erfordert. Wären körperliche Sicherheit oder Arbeit der Parlamentarier gefährdet, ließe eine solche Maßnahme sich noch rechtfertigen. Bei der Verabschiedung des ersten Thüringer Bannmeilengesetzes im Jahre 1991 betonten die Einbringer der CDU aber, sich durch Versammlungen "unter Druck gestellt" zu fühlen. Aber öffentlichen Druck zu erzeugen ist nun einmal legitimer Zweck von Kundgebungen oder Demonstrationen, auch vor Parlamenten. Die selbsternannten Helden der Wende haben offensichtlich vergessen, dass es der Druck der Straße war, der sie in die Parlamente befördert hat. Er ist ihnen unangenehm im Unterschied zu den willkommenen Annehmlichkeiten des Drucks von Lobbyisten aus Kammern, Verbänden und Vereinen, die mit Sekt und Häppchen die "freie Gewissensentscheidung" der Abgeordneten ködern.1920 hatten erzürnte Arbeiter gegen ein Betriebsrätegesetz protestiert und versucht, in den Reichstag einzudringen. Ein brutaler Polizeieinsatz führte am Ende zu 42 Toten und 105 Verletzten. 1948 war es die Besetzung eines Berliner Stadtparlaments durch aufgebrachte Bürger aus Protest gegen die Währungsreform, die ein Bannmeilengesetz zur Folge hatte.In Erfurt hat es in den vergangenen 13 Jahren nie den Versuch gegeben, die Arbeit des Parlaments durch Besetzung oder Blockade lahm zu legen, Abgeordnete physisch oder psychisch zu bedrohen. In den Anfangsjahren des Landtags nach der Wende gab es häufig Demonstrationen an Plenartagen. Die meisten verliefen friedlich, eine Lehrlingsdemo sorgte einmal für ein paar eingeschlagene Kellerfenster, polizeiliche Provokationen mit Kameras und Waffen heizten ein anderes Mal eine Bergarbeiterkundgebung auf. Gefahr für Leben, Leib oder Arbeit der Abgeordneten aber bestand nie. Das war immer der gewachsenen Demonstrationskultur geschuldet und nicht der Existenz einer Bannmeile.Im Übrigen verzichten viele Parlamente in den angestammten alten Demokratien darauf. In England, Frankreich oder den USA kennt man Bannmeilen um Parlamente nicht. Ein Abgeordneter in Washington würde eine Kundgebung auf den Stufen des Capitols nicht als Störung der Demokratie empfinden. Auch für den Osten Deutschlands sind Bannmeilengesetze die Ausnahme: Abgesehen von Berlin, hat nur Thüringen dieses Relikt aus alten Zeiten wiederbelebt. Es war das zweite Gesetz, das der neugewählte Landtag nach der Wende 1991 beschloss. Im gleichen Jahr schaffte der Landtag von Schleswig-Holstein seine Bannmeile ab.Vor dem Hintergrund der politischen Kultur in den ostdeutschen Ländern sind Bannmeilen nichts anderes als politische Misstrauensbekundungen der gewählten Vertreter gegenüber der eigenen Bevölkerung. Ausgerechnet gegenüber Teilen der Bürgerschaft, die von einem der traditionell und auch aktuell wichtigsten Bürgerrechte Gebrauch machen und dann auch noch gegenüber denjenigen, die mittels dieses Rechts ihren Anspruch auf Mitwirkung bei der politischen Meinungsbildung artikulieren. Um so peinlicher, dass außer der PDS niemand im Thüringer Parlament diese Verfassungsansprüche verteidigte. Selbst die SPD-Abgeordneten kritisierten lediglich die Ausdehnung der Bannmeile auf die nun beschlossene Größe.So werden in den nächsten Jahren Kundgebungen und Demonstrationen am Thüringer Landtag nur in gebührender Entfernung vom Plenarsaal stattfinden können. Man wird den Bürgerwillen kaum hören im großzügigen Bau aus Beton, Stahl und Glas, gedacht und gepriesen als Sinnbild der Transparenz demokratischer Meinungsbildung und Entscheidungen. Die Bürger werden wohl für die Abgeordneten nicht einmal zu sehen sein. Es trennt sie von ihren Wählern der Baum- und Buschbewuchs der äußeren Seite einer Straße, die selbst auch Bestandteil der Bannmeile ist: Eigentlich hatte man die Beethovenstraße vor kurzem in Jürgen-Fuchs-Straße umbenannt, um sich eine Adresse mit demokratischer Tradition zu geben. Nun aber hat sich das Sinnbild in sein Gegenteil verkehrt. Der Name des Bürgerrechtlers und DDR-Kritikers ist zum Teil des Symbols der Arroganz der Macht und der Demokratiedefizite geworden, welch eine Ironie. Wen wundert es, dass sich nicht einmal eine Woche nach Verabschiedung des Bannmeilengesetzes die Familie des 1999 Verstorbenen protestierend zu Wort meldete und öffentlich erklärte: "Wenn die freie Meinungsäußerung an dieser Stelle endet, so widerspricht das allem, wofür Jürgen Fuchs gestanden hat und wofür er im Gefängnis war."Roland Hahnemann ist seit 1990 Mitglied des Thüringer Landtags, in dem er von 1994 bis 1999 Vizepräsident war. Heute ist er Innenpolitischer Sprecher der PDS-Fraktion.