Diese schamlosen, leichtsinnigen, klugen, unfassbar dummen Frauen

Erzählungen Sie gilt als eine der letzten Vertreterinnen der russischen Intelligenzija. In Ljudmila Ulitzkajas neuem Erzählband „Alissa kauft den Tod“ zeigt sich ihre ganze stilistische Artistik
Ausgabe 25/2022
Die russische Schriftstellerin Ljudmila Ulitzkaja
Die russische Schriftstellerin Ljudmila Ulitzkaja

Foto: Itar-Tass/IMAGO

Anfang März verlässt die russische Schriftstellerin Ljudmila Ulitzkaja auf dringenden Rat ihres Sohnes Moskau. Zwei Tage später trifft sie in Berlin ein. Die 79-Jährige gehört nicht zu den russischen Künstlern, die sich vor einer deutlichen Position gegen Putin und seinem Krieg scheuten. Sie zählt schon lange zu den Kritikerinnen der russischen Staatsmacht. Ein Mut, der einen Preis hat. Solange Putin an der Macht ist, glaubt sie, werde sie nicht nach Russland zurückkehren können. Das ist ihre Angst. Trotzdem ist sie nicht hoffnungslos. In einem Interview, das sie der Deutschen Welle gegeben hat, sagte sie: „Wenn dieser Krieg gestoppt werden kann, dann nur durch Frauen.“

Wie ernst ihr dieser Satz ist, zeigt ihr wenige Tage vor Ausbruch des Krieges gegen die Ukraine erschienener Band mit Erzählungen Alissa kauft ihren Tod. Darin legt sie die Spur zu den Frauen. Wenn der erste Teil der Prosa-Auswahl mit „Freundinnen“ überschrieben ist, meint sie ihre Gefährtinnen: diese „leichtsinnigen, weisen, schamlosen, bezaubernden, verlogenen, wunderbaren, abergläubischen und treuen, diese überaus klugen und unfassbar dummen Frauen“. Ihre Freundinnen sind nicht heroische Geschlechtsgenossinnen, sie lieben, streiten, leiden. Mit einem Schicksalsschlag endet jäh ein Schnapsgelage.

Die 64-jährige Alissa der Titelerzählung möchte eigentlich ein Mittel zum Sterben, um – wenn es bald so weit ist – kein Pflegefall zu werden. Es kommt anders. Als ihre Schwiegertochter ein Kind zur Welt bringt, denkt sie nicht mehr daran, vor dem Leben zu kapitulieren, und wird eine glückliche Großmutter. Diese und andere Geschichten haben so viel (post-)sowjetische Wirklichkeit aufgesogen, dass der Eindruck entsteht, es handle sich um einen verschenkten Roman, was ein großes Kompliment für eine Erzählung ist.

Feindschaft und Solidarität

Der zweite Teil versammelt Kurzgeschichten und stellt selbstironisch, mit viel Lakonie die Frage, warum man bei Eintritt in die letzte Phase seines Leben noch immer so wenig von ihm verstanden hat, nicht weise geworden ist. In diesen Geschichten zeigt sich die Schriftstellerin auch von einer anderen Seite. Sie benutzt surreale Erfindungen. So in „Aqua Allegoria“. Sonja, die Protagonistin, ändert nach ihrer Scheidung ihre Essgewohnheiten. Fleisch, wonach ihr Mann so süchtig war, kommt ihr nicht mehr in die Wohnung. Von jetzt ab isst sie nur noch Äpfel. Über die Jahre hat es Folgen, denn Sonja wachsen kleine Fäden aus ihrer Haut, mit denen sie sich eines Tages verpuppt. Als wunderschöner Schmetterling verlässt sie die Wohnung, trifft sich mit Artgenossen und ist nicht mehr allein.

Vielleicht liegt die Weisheit des Alters darin, dass alles, was der Verstand nicht erklären kann, in ein Wunder verwandelt wird. Im dritten Teil des sorgsam komponierten Erzählungsbandes spielt die Autorin bestimmte Phänomene oder Krankheiten in Form von Miniaturen durch: Weltuntergang, Tod, Geburt, Zwillinge, Ehepaare, ein Karzinom, das nach besagtem Schnapsgelage entdeckt wird. Unter den Zwillingspaaren findet sich eines, bei dem die eine Schwester zur Überwacherin für den Geheimdienst geworden ist und die andere zur Dissidentin. Was die Autorin mit dem Schlusssatz kommentiert: „Die frühere Ähnlichkeit war verflogen, niemand hätte sie für Schwestern gehalten.“

Die Unterschiedlichkeit der Prosa im Band Alissa kauft ihren Tod zeigt die stilistische Artistik der Ulitzkaja. Alle Texte gelten einem großen Thema: dem Tod und dem Sterben. Aber nicht, um den Tod zu akzeptieren, sondern ihm zu widersprechen. Dass es bei Ljudmila Ulitzkaja vor allem Frauen tun, dass die Frauen nicht zuletzt auch Feindschaften überwinden, Solidarität beweisen, geschieht vermutlich im Vertrauen, dass sie die stärksten Verteidiger des Lebens sind. Aus dieser Gewissheit entsteht das Bild einer russischen Schriftstellerin, das ihrem Land im Krieg guttut.

Man hat Ulitzkaja eine der letzten Vertreterinnen der russischen Intelligenzija genannt. Gehandelt wird sie immer wieder für den Literaturnobelpreis, ihr Satz: „Wenn der Krieg gestoppt wird, dann nur von Frauen“, setzt urplötzlich Hoffnung in die Welt und lässt männliche Kriegsrhetorik alt aussehen.

Info

Alissa kauft ihren Tod Ljudmila Ulitzkaja Ganna-Maria Braungardt (Übers.), Hanser 2022, 300 S., 25 €

Nur für kurze Zeit!

12 Monate lesen, nur 9 bezahlen

Geschrieben von

Freitag-Abo mit dem neuen Roman von Jakob Augstein Jetzt Ihr handsigniertes Exemplar sichern

Print

Erhalten Sie die Printausgabe zum rabattierten Preis inkl. dem Roman „Die Farbe des Feuers“.

Zur Print-Aktion

Digital

Lesen Sie den digitalen Freitag zum Vorteilspreis und entdecken Sie „Die Farbe des Feuers“.

Zur Digital-Aktion

Dieser Artikel ist für Sie kostenlos. Unabhängiger und kritischer Journalismus braucht aber Unterstützung. Wir freuen uns daher, wenn Sie den Freitag abonnieren und dabei mithelfen, eine vielfältige Medienlandschaft zu erhalten. Dafür bedanken wir uns schon jetzt bei Ihnen!

Jetzt kostenlos testen

Was ist Ihre Meinung?
Diskutieren Sie mit.

Kommentare einblenden