Sie müssen da weg

Druck Dürren, Kriege, Not: In Zukunft begeben sich 20 Millionen Afrikaner pro Jahr auf die Flucht. Abschottung ist keine gute Antwort
Ausgabe 27/2018
Willkommen in Europa
Willkommen in Europa

Titel: der Freitag; Material: iStock

Die Staaten der Europäischen Union haben sich auf eine Verschärfung der Asylpolitik geeinigt: Flüchtlinge sollen nunmehr in nationale Asylzentren oder Aufnahmelager in Nordafrika gebracht werden. Damit machen Europas Regierungen erneut deutlich, dass sie die wachsende Migration besonders aus Afrika mit aller Macht verhindern wollen – auch um den Preis der Aufgabe humanitärer Grundprinzipien. Der mühsam ausgehandelte Kompromisstext des Europäischen Rates war bereits in den Tagen nach dessen Gipfel Makulatur: Die EU-Staaten schieben die Asylzentren wie heiße Kartoffeln den jeweils anderen zu, und ganz Nordafrika sträubt sich gegen Aufnahmelager auf seinem Boden.

Afrikas künftiges Migrationspotenzial führt zu politischen Panikattacken. Denn südlich der Sahara vollzieht sich der Rückgang der Geburtenrate quälend langsam. Bis 2050 wird sich Afrikas Bevölkerung laut Projektionen der Vereinten Nationen auf 2,5 Milliarden verdoppeln. Medizinische Fortschritte und der Ausbau der Gesundheitssysteme sorgen zwar für eine höhere Lebenserwartung; der Lebensstandard blieb aber nicht zuletzt wegen der damit verbundenen Bevölkerungsexplosion niedrig. Geringe Ausbildungs- und Arbeitsmarktchancen bei einer wachsenden Erwerbsbevölkerung nähren die Abwanderung auch aus wirtschaftlicher Perspektive. Laut Internationalem Währungsfonds sind 85 Prozent der afrikanischen Migranten wirtschaftlich motiviert.

Der Anteil der afrikanischen Migranten, die ihren Kontinent tatsächlich verlassen, hat sich im letzten Vierteljahrhundert von einem Viertel auf ein Drittel erhöht. Ihre Anzahl stieg von einer Million im Jahr 1990 bis heute auf sechs Millionen an. Das Bevölkerungswachstum und der steigende Anteil von afrikanischen Emigranten lassen vermuten, dass ihre Zahl in den kommenden Jahrzehnten auf 20 Millionen pro Jahr steigen wird. Viele wanderungswillige Westafrikaner wollen nach Westeuropa.

Blühender Populismus

Analog zu Harvard-Professor Dani Rodriks Globalisierungstrilemma ist Europa zunehmend mit einem Migrationstrilemma konfrontiert. Nur zwei von drei Optionen können gleichzeitig erzielt werden: Einwanderung in riesiger Zahl, Menschenrechte oder Selbstbestimmung. Bereits 1943 hatte Hannah Arendt auf das Dilemma zwischen Massenzuflucht und Wahrung der Menschenrechte hingewiesen. Lässt man die massive Zuflucht zu, wahrt man zwar die Menschenrechte, verliert aber laut Arendt die nationale Selbstbestimmung. Der Migrationsforscher und Oxford-Professor Paul Collier vermutet in seinem Buch Exodus in Bezug auf die Aufnahmeländer eine Grenze, von der an die Zuwanderung wegen Überfremdung und Vertrauenserosion für das komplexe Sozialmodell einer Gesellschaft schädlich werde. In seinem im Sommer 2017 erschienenen Essay Europadämmerung weist der liberale bulgarische Vordenker Ivan Krastev nach, wie Europa in der Folge massiver Einwanderung seine demokratische Seele verliert und populistische Parteien fördert. Soll der freie Schengenraum gerettet werden, benötigt die EU den Schutz ihrer Außengrenzen.

Europa hat also das Recht und die Pflicht, Zuwanderung zu begrenzen und auszuwählen – nicht zuletzt aus Verantwortung für die Herkunftsländer. Man fragt sich in der Tat, wie in armen Ländern die für die Produktivitätsoffensive nötigen Ausbildungsfortschritte erzielt werden können, wenn die Gebildetsten und Agilsten ihre Länder verlassen.

Das Migrationspotenzial Afrikas dürfte aus demografischer Sicht steigen, solange die Bevölkerung stark wächst. Aus ökonomischer Sicht wird die Abwanderungsbereitschaft aufgrund fehlender Ausbildungs- und Arbeitsmarktchancen bei einer wachsenden Erwerbsbevölkerung hoch bleiben. Politisch nährt sich Afrikas Migrationspotenzial durch Regierungsversagen, Instabilität, politische Verfolgung und Menschenrechtsverletzungen. Die Anziehungskraft von politischer Stabilität, Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und Sozialpolitik in Europa erklärt einen Teil der Fluchtmigration nach Europa. Das Migrationspotenzial Afrikas dürfte schließlich auch aus ökologischen Gründen steigen, weil durch den voranschreitenden Klimawandel und den wachsenden Bevölkerungsdruck Wassermangel und die Degradation der Böden zunehmen werden. Ob das afrikanische Migrationspotenzial sich in Migration nach Europa manifestiert, richtet sich auch nach der Aufnahmekapazität innerafrikanischer Zielregionen wie dem südlichen Afrika und Nordafrika.

Die gegenwärtig von der Europäischen Union verfolgten und forcierten Maßnahmen haben eine große Spannweite – vom Charakter her zielen sie aber fast alle auf die Verhinderung von Migration und Flucht nach Europa. Immer mehr rechtspopulistische Regierungen kommen in Europa an die Macht und implementieren eine Politik der rigorosen Abschottung. Sie verstoßen unter anderem gegen die Europäische Menschenrechtskonvention und die UN-Flüchtlingskonvention. Die Abschottungs-Aktivitäten zum Schutz der Außengrenzen, Lager, Hotspots, Ankerzentren und abgeschlossene Dörfer sind der Grund für die jüngst stark gesunkene Zahl der Migranten und Flüchtlinge aus Afrika. Diese Maßnahmen hindern Flüchtende und Migranten aus Afrika bereits auf dem afrikanischen Kontinent daran, nach Europa zu gelangen. Die Grenzkontrollen und die hohen Kosten der Migration schwächen damit auch die Bereitschaft von Afrikanern ab, überhaupt nach Europa zu wollen.

Gibt es mittelfristig Auswege aus dem beschriebenen Trilemma?

Ein europäisches Einwanderungsgesetz, das die bestehenden legalen Möglichkeiten für Migration – etwa mittels der Blauen Karte für Hochqualifizierte – ausweitet und damit einen Teil der ungeordneten Flucht- und Migrationsbewegungen einhegen könnte, bietet den besten Kompromiss zwischen Wahrung der europäischen Selbstbestimmung und Wahrung der Menschenrechte. Allerdings fehlt eine abgestimmte Agenda mit den afrikanischen Ländern. Zwar gibt es den „Compact with Africa“ der G20 und den „Marshallplan“ Deutschlands, aber diese konzentrieren sich nicht umfassend auf die entscheidenden Herausforderungen, das heißt: die Beseitigung der politischen und ökologischen Gründe für Flucht und Auswanderung. Der deutschen Regierung und auch der Europäischen Union fehlen bislang abgestimmte Konzepte mit afrikanischen Regierungen, die sich dem Thema Abwanderung und Flucht intern kaum gewidmet haben. Im Gegenteil: Einige Führer in fragilen Staaten nutzen die Situation geradezu, um einen Geldsegen aus Europa einzustreichen.

Die meisten Flüchtlinge stammen aus politischen und ökologischen Krisengebieten. Daher stellt sich die Frage: Wie kann eine Politik der Migrations- und Fluchtursachenbekämpfung mit einer Politik der Einhaltung des internationalen Asylrechts und der Wahrung der Menschenrechte verbunden werden? Daraus ergeben sich vier grundlegende Konsequenzen, die mit einer deutlichen Umsteuerung der bisherigen Maßnahmen verbunden werden müssen.

Die Hauptaufgabe wäre es erstens, im Rahmen der Vereinten Nationen vor allem Friedensprozesse zu befördern und eine Krisen vorbeugende Politik zu gestalten. Darauf sollten sich die Maßnahmen konzentrieren, denn jeder Krieg wird zu neuen Fluchtwellen führen.

Eine zweite – und angesichts der muslimischen Traditionen in der Sahelzone keineswegs einfach zu bewältigende – Aufgabe bestünde darin, insbesondere durch Bildungsoffensiven eine Stabilisierung der Bevölkerungszahl zu unterstützen, mit Schwerpunkten auf Frauen sowie den ländlichen Raum.

70 Prozent ohne Strom

Drittens könnten viele Menschen durch die Verbesserung der Infrastruktur – Straßen, Elektrizität, Gesundheitswesen – und die Entwicklung von Landwirtschaft wie Unternehmertum leichter Jobs finden und Bauern und Kleinunternehmen in die Märkte integriert werden. Viele Menschen im ländlichen Afrika und in den kleinen und mittelgroßen Städten sind weitgehend von der Basisversorgung abgekoppelt. 70 Prozent sind ohne Stromversorgung

Der ressourcenintensive Lebensstil in den Mitgliedsstaaten der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) hat viertens den Klimawandel hervorgerufen, unter dem vor allem Menschen in Afrika leiden. Sie fliehen vor Dürren und Fluten. Nachhaltige Entwicklung und ein ressourcenschonender Lebensstil im Westen könnten Migration und Flucht eindämmen. Falls die Angriffe auf die Natur anhalten, wird sich die Lage weiter verschärfen und die Zahl der Flüchtenden immer wieder steigen. Der Kampf gegen die Fluchtursachen muss also mit Maßnahmen für eine nachhaltige Entwicklung in den Industrieländern verbunden werden.

Mehr als die Hälfte der Afrikanerinnen und Afrikaner ist heute jünger als 30 Jahre. Mehr als 19 Millionen Menschen sind innerhalb Afrikas auf der Flucht. Es ist Aufgabe des Westens, dazu beizutragen, dass sich ihre Perspektiven verbessern. Eine realistische und zugleich humane Flucht- und Migrationspolitik bedarf eines Engagements, das Nachhaltigkeit und Bevölkerungsmaßnahmen sowie Arbeitsplätze für die Armen umfasst.

Eine dementsprechend kohärente Strategie mit einer fairen Handelspolitik, einer beschäftigungsfördernden Investitionssteuerung, einer arbeitsmarktorientierten Infrastrukturpolitik und einer armutsmindernden Entwicklungspolitik würde die Fluchtursachen verringern und Menschen in Afrika bessere Bleibebedingungen verschaffen.

Robert Kappel forscht zu Afrikas ökonomischer Entwicklung und globalen Machtkontexten. Er war Professor an den Universitäten Hamburg und Leipzig und ist Präsident Emeritus des GIGA German Institute of Global and Area Studies in Hamburg

Helmut Reisen war Forschungsleiter am OECD Development Centre in Paris sowie Titularprofessor für Volkswirtschaft an der Universität Basel. Er berät heute Institutionen der Finanz-, Wirtschafts- und Entwicklungspolitik

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