Sie nennen es Beratung, ich Mittagessen

Unternehmenskultur Wann eigentlich haben Berater das kollegiale Mittagessen als Methode entdeckt?
Ausgabe 43/2019
Der nächste, bitte
Der nächste, bitte

Foto: Gerhard Leber/Imago Images

Eine Leidensgenossin muss es doch geben! Eine Person, die es – wie ich – nicht ganz so toll findet, im Kreis von sechs bis neun Kollegen ein berufliches Problem mit einem schamanenartigen Beratungsritual zu vertreiben. Unter Hunderten von Lobpreisern der Kollegialen Fallberatung finde ich im Internet einen Spötter: lotoseater schreibt, er kenne das Prozedere unter anderem Namen, nämlich „ ‚Mittagessen‘, oder ‚Kaffeetrinken‘‚ oder ‚Biertrinken‘ ... ;-)“.

Seitdem vergeht kein Mittagessen mehr, ohne dass ich darüber nachdenke, wann die ersten Berater die Methode Kollegiales Mittagessen durchsetzen und wie das dann wird. Bislang ist es ja so: Die autolose Kollegin A fragt sich, wie um alles in der Welt sie jetzt, wo es doch bald zu kalt zum Radfahren werde, zur Arbeit kommen könne, weil ihr Bus baustellenbedingt nicht mehr fahre. Kollege B erwidert, dass dieser Bus sehr wohl fahre, erst gestern, sogar mit ihm drin, von einer Baustelle habe er nichts gesehen. Danach: Stille. Krampfhaft muss nach neuen Themen gesucht werden. Ungleich kommunikativer verliefe da doch das Kollegiale Mittagessen.

Wie bei der Kollegialen Fallberatung wäre auch hier das Gespräch stark formalisiert. Überaus wichtig dabei: Alle müssen sich präzise an ihre Rollen und den Ablauf halten. Zunächst berichtet die Fallgeberin von ihrem Busproblem. Die anderen hören aufmerksam zu – ausnahmslos. Auch Kollege B. Auch wenn es ihm noch so schwerfällt. Würde er jetzt darauf hinweisen, dass der Bus wieder fahre, hätte er die Lösung des Problems durch die Methode des Kollegialen Mittagessens bösartig sabotiert. Erst nachdem die Fallgeberin ihren immer verworreneren Fall geschildert hat, dürfen die anderen nachfragen, aber nur um weitere Details des inzwischen sehr vielfältig geschilderten Problems zu erfahren. Mit seinem Hinweis, der Bus fahre doch wieder, läge der Kollege B erneut komplett daneben.

Nein, richtig wäre es, die Fallgeberin zu fragen, ob sie bei der Nahverkehrsgesellschaft nachgefragt habe, was der Stand der Dinge bezüglich des Busses sei. Die Fallgeberin kann daraufhin wahrheitsgemäß antworten, dass sie das vergangene Woche nicht mehr geschafft habe. Die Berater notieren sich: „Lösung 1: Nachfragen!“, sagen aber noch nichts. Denn die Fallgeberin muss sich erst umdrehen oder sich die Augen zuhalten. Wozu das gut ist, kann bei einem weiteren Kollegialen Mittagessen herausgefunden werden. Jetzt dürfen die Berater alle möglichen Lösungen aufzählen, etwa „Nachfragen!“, aber auch ganz unrealistisch erscheinende Ideen sind willkommen. Die Fallgeberin darf sie nicht kommentieren, auch wenn sie sie schon alle ausprobiert hat und der Vorschlag „Nimm doch dein Auto“ nicht zu verwirklichen ist, weil sie keines hat. Dafür hat sie jetzt Zeit, auch mal was zu essen, soweit das mit geschlossenen Augen möglich ist. Die Lösung „Nachfragen!“ ist übrigens unter den vielen Vorschlägen der uninteressanteste, weil er das interessante Problem ja nicht wirklich löst, sondern sich nur ergeben würde, dass es vorübergehend nicht existiert.

Nachdem alle Berater ihre Assoziationen, Empfindungen und Fantasien zum Fall geäußert haben und auch Kollege C wieder einmal erzählt hat, was ihm in diesem einen Urlaub mit Buslinien alles passiert ist … erst dann, also danach, darf die Fallgeberin die Augen wieder öffnen und sagen, welche Lösungsvorschläge sie annimmt. Natürlich alle, man will ja keine Kollegen beim Mittagessen frustrieren.

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