Sieben Jahre Scham und Schuld

Niederlande Mariska Schols’ Familie wurde des Sozialbetrugs bezichtigt – sie war aber Opfer einer kafkaesken Bürokratie
Ausgabe 18/2021
Der niederländische Premierminister Mark Rutte (r.) trifft sich mit den Eltern, die Opfer der Kindergeldaffäre wurden
Der niederländische Premierminister Mark Rutte (r.) trifft sich mit den Eltern, die Opfer der Kindergeldaffäre wurden

Foto: Phil Nijhuis/ANP/AFP/Getty Images

Dieses Land hat man sich als hocheffizient verwalteten Staat vorgestellt, aber seit der „Kinderzuschlagsaffäre“ ist das anders: Etwa 26.000 Familien wurden ungerecht des schweren Sozialbetrugs beschuldigt, das Finanzamt zwang sie zum Zurückzahlen aller Kinderzuschläge. Da es sieben Jahre dauerte, bis das Systemversagen bekannt wurde, verbrachten die Betroffenen sieben Jahre in Scham und Schulden. Sie waren als Sozialbetrüger gebrandmarkt. Oft glaubten ihnen die engsten Angehörigen nicht. Die Regierung trat im Januar wegen der Affäre zurück – zwei Monate vor der Wahl war das rein symbolisch – und versprach eine Entschädigung von pauschal 30.000 Euro. Die Wahl am 17. März ging komischerweise so aus, als wäre nie etwas gewesen: Die rechtsliberale VVD von Premier Rutte gewann sogar leicht dazu, ihre wohlhabende Wählerschaft war nicht betroffen.

Ich besuchte eines der Opfer in Limburg. Mariska Schols, Mutter von fünf Kindern, führt in ihrem Viertel „De Kaaserij“, ein kleines Käsegeschäft. Ich fragte sie nach dem Rechtspopulisten Geert Wilders, der in Limburg seine stärksten Bastionen hat: „Ging der behördliche Kampf gegen Sozialbetrug nicht auch auf ihn zurück?“ Schols antwortete kategorisch: „Das ist nicht die Schuld von Wilders.“ Sie erklärte das Wahlergebnis so: „Die Leute, die viel Geld haben, wollen Mark Rutte.“ Wählen geht sie nicht mehr. „Es wird doch sowieso immer für Rutte gestimmt.“

Schols hatte eine Hand verbunden, so durfte sie keinen Käse verkaufen. Denn: „Das Hygiene-Amt ist kein Spaß, das Finanzamt ist kein Spaß, die Kommune ist kein Spaß.“ Die Niederlande seien, auch wenn das im Ausland keiner glaubt, ein „zutiefst bürokratisches Land“. Deswegen gebe es kaum Limburger Käse, jeder Käse „muss seinen Käsestempel haben“ und werde von einem ganzen „Rechtsgebäude“ geschützt. Die Bürokratie handle nach der Devise: „Es ist immer der Bürger schuld.“

Sie erzählte mir ihre Geschichte. Der „Kinderopvangtoeslag“ ist ein Zuschlag, der ärmeren Eltern einen Großteil der Betreuungskosten in Kitas und Schulen ersetzt. „Holland ist teuer“, so Schols, „eine Stunde Kita kostet bis zu 7,90 Euro.“ 2012 bekam sie einen Brief vom Finanzamt. Darin stand, dass sie den Kinderzuschlag 2008 bis 2010 zu Unrecht bezogen hätte, sie müsse daher 22.000 Euro zurückzahlen. Worin das Unrecht bestand, war nicht vermerkt. Den Grund erfuhr sie erst am Telefon – sie habe gar keine Kinder. Sie hatte aber zwei. Am 26. Oktober 2012 trug sie einen Stapel Beweise aufs Finanzamt Heerlen, von dort ging das nach Breda, von dort nach Apeldoorn. Aus einem Behördenbrief von 2017 ging indirekt hervor, dass der Großteil der Unterlagen verloren gegangen war. Ich rief aus: „Das ist ja wie bei Kafka!“ Kafka sagte ihr nichts, die niederländischen Finanzbeamten beschrieb sie aber als „immer ganz hart“. Sie zahlte die 22.000 Euro nicht, bekam nichts mehr vom Staat, das nach der Lohnpfändung verbliebene Einkommen war niedriger als ihre Miete. Sie blieb die Miete schuldig. Damals starb ihr Vater, ihre Mutter reichte das Erbe zum Begleichen der Mietschuld weiter.

Eine ältere Dame trat ein und fragte, ob es hier „een lekkere kaas“ gibt. Schols erklärte ihr meine Anwesenheit damit, dass ich mich „für niederländischen Käse“ interessiere, zog sich schwarze Handschuhe über und bediente. Ihr Umsatz fiel während Corona „um 20 Prozent, die Leute wissen oft gar nicht, was offen hat“.

Dann erzählte sie weiter. 2014 hatten sich die Schulden auf 60.000 Euro summiert. Um leben zu können, gingen sie und ihr Mann illegal putzen. Ihr Lohn wurde bis 2019 gepfändet, staatliche Leistungen bekam sie erst ab 2020 wieder. Sollte sie die Entschädigung kriegen, wird Mariska Schols die Restschulden los. Ihr Familienleben ist aber geschädigt. Auf ihren Mann deutend, sagte sie: „Seine Mutter glaubt uns nicht, seine Schwester glaubt uns nicht, mein Bruder glaubt uns nicht.“ Ihr Bruder war ihr erst wegen des „Sozialbetrugs“ böse, dann weil sie in den Medien war.

Letzte Frage, warum hat sie eigentlich so viele Kinder? Die Antwort war wieder: Holland ist teuer. Die Spirale koste 600 Euro, Sterilisierung 2.000, sieben Jahre vom Finanzamt gepfändet, hatte sie „für Verhütung einfach kein Geld“. So kamen wegen der Kinderzuschlagsaffäre drei Kinder dazu.

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