Ich bin 1988 in Leipzig geboren, in meiner Geburtsurkunde steht also noch DDR; seit ich denken konnte, lebte ich aber in der BRD in Stralsund an der Ostsee. Mein erstes Babygebrabbel ließ im Jahr eins nach meiner Geburt die Mauer einstürzen, im Jahr darauf wurden die neuen Bundesländer an die Bundesrepublik angeschlossen, der real existierende Sozialismus hat mich geboren und sich kurz nach meiner Ankunft aus dem Staub gemacht.
Abgesehen von mystischen Bemerkungen à la „Das Gebäude steht hier schon seit DDR-Zeiten“ und „So ein Verhalten hätte es vor der Wende nicht gegeben“ wurden er, seine Utopien, Kämpfe und Tragödien mir gegenüber nicht thematisiert, weder in der Familie noch in der Bildung. Zwänge, Kriege, Atombomben, das alles hatte es früher mal gegeben, klar, aber nun waren doch schon lange Vernunft und ewiger Frieden hereingebrochen. In einer westlichen Demokratie zu leben war für mich also der Normalzustand und vor mir die Sintflut.
Was die Verbalisierung meiner Herkunft anging, war ich also unbehaust, gleichzeitig war der alte Staat aber natürlich überall noch sichtbar.
Info
Unter dem Hashtag #baseballschlägerjahre teilen im Netz Menschen Erfahrung wie die, die Hendrik Bolz gemacht hat
Bis zu meinem 15. Lebensjahr wohnten wir im Plattenbauviertel, ich besuchte die Rosa-Luxemburg-Grundschule, unweit der Kaufhalle 8. März; Lesen und Schreiben lernte ich mit der Fibel vom VEB Volk & Wissen, wir gingen am Thälmann-Ufer spazieren, wo eine große Statue des gleichnamigen KPD-Genossen entschlossen die unbrechbare Faust ballte, und wenn mal wieder ein Trabant vorbeifuhr, schimpften die Leute und hielten sich die Nase zu.
DDR-Nachwehen bildeten auch das Substrat, in dem ich und die anderen Kinder herangezogen wurden: Gibt es vier Lollis zur Auswahl, entscheide dich für den kleinsten; bist du mit deinen Schulaufgaben fertig, hilf deinen Mitschülern; ist einer von ihnen gemein zu dir, petze das nicht uns Erziehern, sondern wehre dich selbst; ein großer Junge weint nicht und fürchtet sich nicht; sei kein Stubenhocker; Mütter gehen selbstverständlich arbeiten, dafür gibt es Krippe, Kindergarten und Hort; trau dich nicht zu weit aus der Deckung hervor, sonst gibt es nur Ärger; Gott ist was für Träumer und teuer gekleidete Personen sind suspekt.
Wer immer noch nicht weiß, wie es so war, der Generation Wende anzugehören, der Generation Springerstiefel, Lichtenhagen, NSU, also der Menschen, die ihre Kindheit in der DDR verbrachten und in deren Pubertät die beiden Systeme kollidierten, dem kann ich nur wärmstens empfehlen, bei Peter Richter, Clemens Meyer und Daniel Schulz nachzulesen. Ihre Erzählungen sind geprägt von Werteverlust, Orientierungslosigkeit, Konflikten auf der Straße, Zusammenbruch der Autoritäten und anarchischen Zuständen.
Romantiker denken bei Anarchie schnell an paradiesische Verhältnisse, in denen die Menschen endlich in Frieden nach ihrer Natur leben können, in weiten Teilen der neuen Bundesländer hielt damals aber einfach nur das Gesetz des Stärkeren Einzug – in Gestalt von Nazigruppen, die nun fröhlich ihre ganz eigenen Regeln des Zusammenlebens einführten, Andersdenkende durch die Straßen und in den Westen jagten und eine rechte Hegemonie etablierten, die bis heute nachwirkt.
Baseballschläger, Stahlkappen
Ich gehöre einer anderen Generation an. In Jena-Winzerla lernten sich Beate und die Uwes kennen, da brachte man mir gerade bei, mich selber anzuziehen. Und als in Lichtenhagen das Sonnenblumenhaus brannte, machte ich erste Erfahrungen mit Messer und Gabel.
Neonazis kenne ich aber ebenfalls nicht nur aus Filmen. Glatze, Bomberjacke, Springerstiefel, „Heil Hitler!“, Lonsdale, Alpha, „Schnauze, du Jude!“, das war auch in meiner Umgebung die prägende Jugendkultur, das war provokant, hart, das war die Spitze der Coolness. Faschos waren allgegenwärtige Begleiter meiner Kindheit, waren Kassierer im Supermarkt, Erzieher im Ferienlager, große Geschwister von Freunden, die auf dem Schulweg nett winkten, und sie bildeten Gruppen, die vor Haustüren und auf Spielplätzen lungerten und den öffentlichen Raum unangefochten beherrschten. Als Einzelwesen in befriedeten Kontexten unter Umständen ganz nett, verließen wir kleinen Kinder lieber schnell den Ort des Geschehens, sobald eine Gruppe von ihnen auftrat, denn dann wurde es meist stressig.
Ich kleiner Stöpsel wurde wechselweise als kleiner Türke, kleiner Chinese oder kleine Schwuchtel beleidigt, bedroht und verjagt, dem Hund eines Klassenkameraden warfen sie ein brennendes Taschentuch in die Schnauze, sodass er auf einem Auge erblindete, ein Bekannter wurde nachts auf dem Nachhauseweg krankenhausreif geschlagen, da er braune Augen und dunkle Haare hatte, das gleiche Schicksal ereilte aber auch blonde Männer mit langen Haaren. Anderswo wurden Leute direkt tot- und behindert geprügelt, Baseballschläger, Stahlkappen, Schlagstöcke, zu Brei kloppen, abstechen, Bordsteinfressen, Opfern am Boden auf dem Kopf rumspringen – diese Gruselgeschichten tauschten wir Kinder untereinander aus und lange nach dem Sandmann hielten sie mich noch wach, bis mich dann donnernde „Sieg Heils!“ vom Spielplatz sanft in den Schlaf wiegten.
Gewalt war für mich ständig spürbar und konnte jederzeit hereinbrechen, die Glatzen hatten den Umgang mit ihr nur perfektioniert und vorgelebt. Regelmäßig rollte ich mich im Kindergarten, auf dem Schulhof, auf dem Spielplatz mit mehr oder weniger Gleichaltrigen im Dreck rum, habe öfter auch mal Sand gefressen und auch von einer Gruppe junger Russen richtig kassiert, kam im Großen und Ganzen aber gut durch. Mit meinen Rolf-Zuckowski- und Benjamin-Blümchen-Kassetten bekam ich das alles jedoch schwer überein. Diese Welt machte Angst, die ich als großer Junge ja gar nicht haben durfte, und die Erwachsenen in den Blöcken machten es nicht besser. Huschten selber draußen im Dunkeln wie flinke Mäuse von Wohnung zu Wohnung und zogen bei Geschrei die Vorhänge zu. An Interventionen durch Polizisten kann ich mich nicht erinnern. Das „Klärt euren Streit untereinander!“ meiner Erzieher schien allgemeines Prinzip zu sein und wer verprügelt wurde, der hatte vielleicht auch einfach nicht aufgepasst, wahrscheinlich provoziert, hatte es herausgefordert, war selber schuld.
Nie mit dem Holzhammer, aber laut
Unter dem Künstlernamen Testo ist Hendrik Bolz eine Hälfte des Berliner Rap-Duos Zugezogen Maskulin. Schon im Namen, eine Persiflage auf die Rap-Gruppe Westberlin Maskulin, lässt sich der entschiedene Spott ablesen, mit welchem sich die beiden der Szene im Jahr 2010 widmeten. Anfangs noch recht albern unterwegs, erlangten sie erste Bekanntheit mit dem ironischen Track Undercut Tumblrblog – eine Abrechnung mit der unpolitisch-selbstzentrierten Hipster-Mentalität, die nicht nur in der Hauptstadt grassiert: „Junge Kreative, die das Elend kapitalisieren, und auf ihre Erste-Welt-Probleme langsam masturbieren. (...) Und ich will’s ja auch gar nicht verneinen, die Welt ist ein Haufen Scheiße. Doch werf’ Steine im Anzug, ihr werft nur weinend das Handtuch.“ Ein Rap-Liebling des deutschen Feuilletons war geboren.
2015 folgte mit Alles brennt das Debütalbum beim linken Label Buback. Das Aufwachsen im Ostplattenbau ist bei Zugezogen Maskulin wie bei den Soloprojekten beider Rapper mindestens ein so wichtiges Motiv wie die Verachtung gegenüber der gehobenen Mittelschicht,den Hipstern und Spießern. Dabei überzeugen sie mit Intellekt, der nie frontalpolitisch daherkommt. Zuvor rappte Bolz’ Rap-Kumpane Moritz Wilken alias grim104 über Crystal Meth in Brandenburg, später heißt es bei „ZM“ im Song Uwe & Heiko: „Wir marodier’n durch die Ruin’n vom Stasiknast, Thälmann-Statue schaut herab wie König Ozymandias. Hansa wieder abgekackt, kein Trost mehr in den Flaschen, ich zieh’ dich vom Balkongeländer mit nass geweinten Backen. Die Volkswerft ging pleite im Konflikt mit dem System. Ich spiel’ auf dem Oranienplatz und du wählst die AfD.“ Ohne Zynismus setzen sich beide gegen rechts ein, zuletzt beim #wirbleibenmehr-Konzert im Juli in Chemnitz.
Was ich daraus lernte: Draußen wartet die Gewalt und keiner wird dir helfen. Entweder du passt auf, dass du nicht provozierst, unterwirfst dich, hältst die Fresse, ziehst dich unauffällig an – oder du musst eben der Stärkere sein, um der doppelten Demütigung, einmal durch das Erleiden der Gewalt und durch das anschließende „Na ja, du bist aber auch selber schuld ...“ zu entgehen. Also pass dich an, halt dich fit, sei stark und gehe möglichst nicht alleine raus! Tja, und wer setzte diese Glaubenssätze denn nun besser um als die großen kräftigen Jungs in den Bomberjacken? Unsere Haare konnten jetzt auch nicht mehr kurz genug sein und ich wollte mir ab sofort gar nichts mehr gefallen lassen, was mich in der Klasse in eine Tyrannenposition und meine Eltern zu mehreren „So wird es bald auf dem Gymnasium aber nichts werden“-Lehrergesprächen führte.
Fotze, Hure, Nutte, Schwuchtel waren seit der ersten Schulwoche unsere liebsten Schimpfwörter. Fußballspielen, River-Cola-Trinken und 50-Pfennig-Chips-Essen unsere liebsten Beschäftigungen. Meine erste Freundin klaute von ihrer Mutter Zigaretten, die wir uns in der Rutsche auf dem Rodelberg beim Knutschen teilten, von der großen Schwester eines Mitschülers überspielte ich mir Heilige Lieder, mein erstes Onkelz-Album, eine andere lud mich ein, doch mal abends mit zu ihren Glatzen-Freunden zu kommen, da könne man so schön saufen. Vor der Kaufhalle drei Straßen weiter verbrannte laut den Lehrern ein Kind, weil es sich als Mutprobe den Arm mit Klebeband umwickelte und anzündete, ein anderes starb, weil es zu viel Feuerzeuggas inhalierte. Irgendwann schnappte ich auch die ersten Ausländerwitze auf und trug sie zu Hause vor, was komischerweise überhaupt nicht goutiert wurde, das wäre nicht lustig, über so etwas lache man nicht. Hat mich absolut irritiert, denn sonst schien es mir doch, als würden alle solcherart Sprüche durchwinken? Verstanden, was ich da sagte und worum es hier die ganze Zeit ging, habe ich in dem Alter sowieso nicht, das sollte sich aber bald ändern.
Erdrutschartiger Kapitalismus
Den Erwachsenen ob der Geschehnisse draußen einen Vorwurf zu machen, fällt schwer. In der gesamtdeutschen Geschichtsinszenierung dominierten beim Thema Mauerfall lange die Bilder von freudestrahlenden Menschen, die sich tränennass umarmen und voller Zuversicht in die Zukunft blicken.
Was mit der sogenannten Wiedervereinigung allerdings folgte, war harte Arbeit und große Ungewissheit, ein Volk aus gestandenen Persönlichkeiten, die über Nacht zu einem neuen Staat gehörten, alles völlig neu lernen und jemand anderes werden mussten. Statt der alten SED-Eliten nahmen nun Westdeutsche auf den wichtigen Stühlen Platz, die Schreckensbilder aus dem Staatsbürgerkunde-Unterricht schienen zum Leben erwacht, der Einzug des Kapitalismus riss erdrutschartig alles mit.
Landauf, landab machten die Betriebe dicht, drei von vier Ostdeutschen verloren in den ersten Jahren nach der Wende ihren angestammten Arbeitsplatz und damit das, was in der DDR Lebensmittelpunkt und Identität bedeutet hatte. In kürzester Zeit fand ein Abstieg vom industriellen Musterland des Ostblocks zum deindustrialisierten Sorgenkind am Tropf des Westens statt.
Wer mobil war, suchte spätestens jetzt sein Glück drüben, vor allem Frauen und Abiturienten zogen reihenweise fort. Auch der Stralsunder VEB Volkswerft wurde holpernd privatisiert, viele Leute entlassen – und wer jetzt nicht aufpasste, reihte sich womöglich bald ein bei der wachsenden Anzahl von Trinkern vor den Kaufhallen und Bushaltestellen, die zum Frühstück Hundefutter aus der Dose löffelten.
Unser grauer Plattenbau bekam pastellgelben Putz, wenig später hatte jemand groß und gut sichtbar „Lieber stehend sterben als kniend leben!“ drangesprüht. Mittendrin in dem ganzen Wahnsinn: ich und meine Freunde, kleine Kinder mit kurz geschorenen Haaren und Jogginghose, die es ja nicht anders kannten und irgendwie durchflutschten. Es war jetzt 1998, Beate und die beiden Uwes gingen in den Untergrund und ich kam aufs Gymnasium. Es folgten zehn Jahre, in denen Faschos sukzessive an Coolness verloren und vermeintlich aus dem Stadtbild verschwanden, die Jugendarbeitslosigkeit voll reinkrachte, Rap aus Berlin die Onkelz ablöste und die Knospen, die ich in den 90ern entwickelte, wilde Blüten trieben.
Zehn Jahre durchzogen von Anpassung und Ablehnung, an deren Ende die klassische Frage „Gehen oder Bleiben?“ stand und ich, wie unendlich viele vor und nach mir, in den Westen gezogen bin. Meine Grundschule, meinen Kindergarten, meinen Hort und auch mein erstes Gymnasium gab es da schon lange nicht mehr.
Nie mit dem Holzhammer, aber laut
Unter dem Künstlernamen Testo ist Hendrik Bolz eine Hälfte des Berliner Rap-Duos Zugezogen Maskulin. Schon im Namen, eine Persiflage auf die Rap-Gruppe Westberlin Maskulin, lässt sich der entschiedene Spott ablesen, mit welchem sich die beiden der Szene im Jahr 2010 widmeten. Anfangs noch recht albern unterwegs, erlangten sie erste Bekanntheit mit dem ironischen Track Undercut Tumblrblog – eine Abrechnung mit der unpolitisch-selbstzentrierten Hipster-Mentalität, die nicht nur in der Hauptstadt grassiert: „Junge Kreative, die das Elend kapitalisieren, und auf ihre Erste-Welt-Probleme langsam masturbieren. (...) Und ich will’s ja auch gar nicht verneinen, die Welt ist ein Haufen Scheiße. Doch werf’ Steine im Anzug, ihr werft nur weinend das Handtuch.“ Ein Rap-Liebling des deutschen Feuilletons war geboren.
2015 folgte mit Alles brennt das Debütalbum beim linken Label Buback. Das Aufwachsen im Ostplattenbau ist bei Zugezogen Maskulin wie bei den Soloprojekten beider Rapper mindestens ein so wichtiges Motiv wie die Verachtung gegenüber der gehobenen Mittelschicht,den Hipstern und Spießern. Dabei überzeugen sie mit Intellekt, der nie frontalpolitisch daherkommt. Zuvor rappte Bolz’ Rap-Kumpane Moritz Wilken alias grim104 über Crystal Meth in Brandenburg, später heißt es bei „ZM“ im Song Uwe & Heiko: „Wir marodier’n durch die Ruin’n vom Stasiknast, Thälmann-Statue schaut herab wie König Ozymandias. Hansa wieder abgekackt, kein Trost mehr in den Flaschen, ich zieh’ dich vom Balkongeländer mit nass geweinten Backen. Die Volkswerft ging pleite im Konflikt mit dem System. Ich spiel’ auf dem Oranienplatz und du wählst die AfD.“ Ohne Zynismus setzen sich beide gegen rechts ein, zuletzt beim #wirbleibenmehr-Konzert im Juli in Chemnitz.
Kommentare 6
Geiler Text!
Genau so war es .. in den blühenden Landschaften. An vielen Ecken jedenfalls.Zum Besipiel auch auf Rügen auf einem Zeltplatz Ende der 90er. Ein paar Jungs, Musik und Alkohol.. Die Jugend und das Leben genießen, Spaß haben und Mädels kennenlernen.
Leider hatten 20 Glatzen mit hässlicher Gesichtsgardiene den selben Plan und waren nur 400 Meter weit weg. Es kam wie es kommen musste, wenn man Kumpels mit langen Haaren hatte und Ärzte hörte. Ich erinnere mich nur noch wie ich um mein Leben rannte. Dann später zurückkehrte und die blutigen, blau anschwellenden Gesichter meiner Kumpels sah. Springerstiefel hinterlassen einen bleibenden Eindruck im Gesicht! Und in der Seele!
Nazi war ich nie! .. Und werde ich auch nie! Aber ich verstehe heute warum diese Typen so sind wie sie eben sind! Und warum sie zwar optisch verschwunden sind aber trotzdem nicht weg zu kriegen sind! War ja nur Körperverletzung .. und schlließlich hat ja jeder eine zweite CHance verdient in diesem Staat. Das haben wir nun davon. Sie sind nämlich wieder da.Nur heute tragen sie Hemd und Krawatte und legen Waffenlager an!
Alle gegen Alle find ich zu geil!
Ihr Beitrag scheint mir aus der Seele geschrieben. Lange Sommer hab ich in Knieper-West verbracht, die Ferien bei Oma. Aber möglichst wenig draußen im Viertel, weil da die Glatzen herumliefen.Das ist der zweite Beitrag innerhalb weniger Wochen aus dem Osten und aus "meiner Generation". Der Letzte zu Geras 90ern bei Bento. Wird diese Zeit endlich ehrlich aufgearbeitet? Wenn ja, dann ist das gut und an der Zeit. Bitte mehr davon!
ja, da kommen erinnerungen hoch. die polizei, die bei irgendwas mit nazis immer erst eine halbe stunde später kam. die elterngeneration, die immer was an den ohren hatte, wenn man ihnen von der straße erzählte. bei uns kippte irgendwann das kräfteverhältnis. da kamen die glatzen in die disco und hauten erstmal irgendwem eine rein, und plötzlich stand einer auf, und dann stand der halbe saal auf, und die typen kriegten aber richtig was aufs maul.
kurz darauf schien alles ruhiger zu werden für ein paar jahre. die nazis wurden fett und vater oder beides, ein paar gingen zum bund. soundtrack: smashing pumpkins und mos def.
Die Wende kam, als ich 14 war und es war das krasseste, was einem jungen Mensche je passieren kann. Es herrschte Anarchie, die Ost-Bullen hatten mit sich und ihrer Vergangenheit zu tun und hielten sich sehr zurück. Die Strassen waren voll mit alten Trabbis, Wartburgs, Motorrädern, die keiner mehr haben wollte. Die Rentner kloppten ihr Geld für einen duchgerosteten Opel Rekord aus'm Westen auf den Kopp und gaben uns ihren alten Trabbi für 50 Mark. Das war ein Paradies, Bullen haben uns nie angehalten...
Die Elterngeneration war ziemlich unter Druck, mussten schauen was kommt und wie sie uns alle im großen Neuen durchbekamen. Keiner wusste, wie es morgen weiterging. Alles, was gestern noch zählte war heute nix mehr wert. Das muss man erstmal verarbeiten. Ich kann mir das bis heute noch nicht vorstellen und bekomme noch heute Brechreize, wenn unsere Geschichte nach westdeutschen Maßstäben von Leuten analysiert und diskutiert wird, die nicht im Geringsten nachvollziehen können, was ein Systemzusammenbruch für jeden einzelnen bedeutet hatte.
Ich bin froh, eine Kindheit in der DDR, meine Ausbildung und mein Leben nach der Wende erlebt zu haben. Ich wünsche mir deutlich mehr Respekt vor den Leistungen meiner Elterngeneration, die unter schwierigen Randbedingungen viel herausgeholt haben. Dieser fehlende Respekt, gerade nach der Wendezeit, wo meist die dritte Garde der Westdeutschen die Leitungsfunktionen in fast allen Bereichen des Lebens im Osten übernahmen, ist einer der Hauptgründe, warum Nazis damals so stark wurden. Das waren die Kinder von Arbeiter und Bauern, die auf einmal nix mehr Wert waren, Resignation hielt Einzug in vielen Haushalten. Das ist der gleiche Mechanismus wie heute, wo Höcke und Co. das Blaue vom Himmel versprechen in einer Region, wo man politisch versagt und bis heute drauf geschissen hat.
Flotter Text und - ja, da kommen herbe Erinnerungen hoch. Vor allem wegen der Ähnlichkeit bis Deckungsgleichheit des Selbsterlebten. Neben der Nazigeschichten auch das, was @JFS schreibt. In Teilen anarchistisch aber vor allem auch gewaltvoll - nicht allein wegen der “Nasen“ -, das waren die 90er im Osten. Aber trotzdem auch eine der besten Zeiten in meinem Leben (zur Wende ebenfalls 14 Jahre alt). Was noch alles selbst organisiert und auf die Beine gestellt werden konnte! Und fast ohne Gedanken an die Zukunft waren wir. Clemens Meyers “Als wir träumten“ gab schon vor Jahren einen gelungenen Wiederhall dieser Zeit.