Der "deutsche Sonderweg", kein Zweifel, es hat ihn gegeben. Doch welche geschichtlichen Abschnitte verdienen wirklich diese Bezeichnung, und wo liegen die Wurzeln dieses Weges? Waren rückständige Staatsapparate und erstickte Revolutionen die Ursachen oder führte ein sich rasant entwickelnder Kapitalismus, der Deutschland so aggressiv und hungrig machte, in die Katastrophen des 20. Jahrhunderts? Jürgen Elsässer stellt sich diesen Fragen, vor allem mit Blick auf die politischen Entscheidungen der neunziger Jahre und die aktuellen Debatten. "Dieses Buch bricht mit dem Dogma und präsentiert Fakten.[...] Präsentiert wird eine Streitschrift zur aktuellen Debatte und deren historischen Hintergrund", heißt es im Vorwort.
Ein Dogma lautet, Deutschland solle au
d solle aus dem traditionellen Bündnis mit den USA ausscheren, wieder nationalistische Bestrebungen verfolgen und sich - abgekehrt von seinen europäische Nachbarn - wiederum anschicken, einen Sonderweg zu beschreiten. Diesen Spieß dreht Elsässer um. Seine These: Seit 1989 setzt die Bundesrepublik Deutschland ihren Sonderweg, der 1945 vorerst gestoppt wurde, an der Seite der USA fort, und zwar offensiv gegen seine europäischen Nachbarn. Seit der Wiedervereinigung, die trotz des Widerstandes der erschrockenen Franzosen und Briten, aber dank des Beistandes der Amerikaner zustande kam, strebe Deutschland gezielt alter Stärke entgegen und wisse im Windschatten der USA sehr erfolgreich eigene Interessen zu vertreten. Doch was schweißt diese beiden Nationen zusammen, was unterscheidet sie zum Beispiel von Schweden? Elsässers zugespitzte Antwort: Die deutsche und die amerikanische Wirtschaft besitzen eine "strukturelle Neigung zum Krieg". Das Dilemma: Die Bundesrepublik ist mit ihrer exportorientierten Ökonomie stark abhängig vom Exportstaubsauger USA und damit von einer florierenden US-Ökonomie. Den Amerikanern fällt diese Rolle jedoch immer schwerer, da sie ihre Rüstung seit Jahren über Schulden finanzieren und ihr Importvolumen das der Exporte weit übersteigt. Neue Aufträge und Absatzmärkte scheinen unabdingbar, als Beispiel verweist der Autor auf den Zweiten Weltkrieg, der für die USA wie ein Konjunkturmotor wirkte. Allerdings überzieht er mit seiner These vom ausgeprägten "Kriegskeynesianismus" Nordamerikas.Mit diesem mächtigen Partner und viel Selbstbewusstsein durfte der politische "Wiederaufstieg" Deutschlands beginnen. Bereits mit der Jugoslawien-Krise ab 1992 wurde der neue Machtanspruch deutlich. So schildert Elsässer anhand von gut recherchierten und detaillierten Hintergrundinformationen genau die Abläufe hinter den Kulissen damaliger Geschehnisse und legt dar, wie Deutschland Kroatien und Slowenien vor allen anderen EU-Staaten anerkannte - sehr zum Ärgernis der Diplomatie in Paris und London. Doch wurde damit wirklich ein Sonderweg beschritten? Schließlich folgten die USA und die EU in Gänze schon bald den deutschen Positionen. Und war die "Renationalisierung" nach 1989, von Elsässer mehrfach herausgehoben, in den Balkanstaaten nicht wesentlich ausgeprägter als in der Bundesrepublik?Dennoch, gerade in den Schilderungen der Balkankriege liegt die Stärke des Buches. Mit aufschlussreichen Hintergrundinformationen gelingt es dem Verfasser, der in diesem Thema akribische Kenntnisse angesammelt hat, strategische Entscheidungen jener Jahre transparent zu machen und neue Fakten zu präsentieren. Die Verbindungen des BND zum kroatischen Geheimdienst werden dargelegt, ebenso die deutschen Rüstungsexporte an die Kriegsparteien unter Bruch des UN-Embargos. Auch bot die Deutsche Bank den aus der jugoslawischen Föderation Ausgescherten ihre "Hilfe" bei der Suche nach neuen Absatzmärkten an. Bereits 1993 avancierte Deutschland zu Kroatiens wichtigstem Handelspartner mit einem Anteil von 20 Prozent an dessen Außenhandel, was die kroatische Zeitung Danas zu der Schlagzeile bewegte: "Siemens kauft Kroatien".Dies ist wirklich eine Streitschrift, und dies ist Jürgen Elsässer, wie man ihn kennt, ein Autor, der zu polarisieren weiß. Doch warum erscheint dieses Buch jetzt? Die Antwort liegt in der jüngsten Vergangenheit. Gerhard Schröders "Nein!" zum Irakfeldzug markiere eine Zäsur, so Elsässer. Erstmals seit der Wiedervereinigung widersetzte sich die deutsche Regierung einem Krieg - eine "historische Chance" zur Abkehr von den wirtschaftsgesteuerten "partners in leadership"? Der Autor beschreibt die Liaison zwischen Paris, Berlin und Moskau nicht als militärischen Gegenpart, sondern als "Achse des Friedens", als Knoten in einem eurasischen Friedensnetz. Um keinen illusionären Vorstellungen anzuhängen, verweist er auf die Notwendigkeit, diese Vision gegen die bestehende globale Wirtschaftsordnung durchzusetzen. Ob das realistisch ist, scheint fraglich.Jürgen Elsässer: Der deutsche Sonderweg. Historische Last und politische Herausforderung. Hugendubel, München 2003. 264 S., 19,95 EUR