Sind Sie wahnsinnig?

Die Ratgeberin Dann testen Sie doch die Sit-up-App und mausern sich zum neoliberalen Wachstumsfanatiker!
Ausgabe 28/2015
Vor der Sit-Up-App dachte unsere Autorin nie so leistungsorientiert
Vor der Sit-Up-App dachte unsere Autorin nie so leistungsorientiert

Foto: Jacobsen/Three Lions/Getty Images

Mit letzter Kraft tippe ich diese Worte hier. Was ist passiert? Seit vielen Jahren machen mein Smartphone und ich Frühsport: Ein paar Liegestütze, Kniebeugen und Sit-ups, die, glaube ich, eigentlich Rumpfbeugen heißen, aber das ist verschüttetes Wissen. Jedes Mal, wenn ich die vereinbarte Anzahl Sit-ups geschafft hatte, rief mein Smartphone, außer sich vor Freude: „Beautiful!“, „Well dONE!“ oder sogar „Great!“ Ich klickte den Button „war zu schwierig für mich“, und am nächsten Tag machte ich wieder dieselbe Anzahl an Übungen. Alles war gut.

Dass man auf keinen Fall den Button „war okay“ klicken darf, hatte ich schnell gelernt. Denn dadurch multiplizierte sich die Anzahl der Wiederholungen, die man machen sollte, schnell ins Unermessliche: Mit fünf Sit-ups fängt man an, und schon vier Monate später ist man hauptberufliche Sit-upperin mit 50.000 Wiederholungen und mehr pro Tag. Absurd. Aber wie gesagt, solange ich „zu schwierig“ klickte, funktionierte alles prima. Dann passierte das Verhängnisvolle.

Aus Versehen löschte ich die App. Und entdeckte: Meine gute alte App ist nicht mehr im Angebot. Ich musste umsteigen auf eine neue Anwendung. Bei der kostenlosen Testversion sollte ich mit gefühlten anderthalb Sit-ups einsteigen. Lächerlich. Ich suchte nach dem „war okay“-Button, damit der mich schnell auf die mir zusagenden 34 hochjazzt. Vergeblich. Die neue App verstand nur die Sprache der persönlichen Rekorde, mein Trainingsplan würde sich an diesen orientieren. So dachte ich noch vor einer Woche. Inzwischen zweifle ich daran. Erst vorvorgestern stellte ich einen stolzen Rekord auf: 178 Sit-ups. Danach wurde mein Tagespensum auf gerade mal neun hochgesetzt. Neun?! Ich war doch die Frau, die gerade 178 Sit-ups am Stück geschafft hatte!

Okay, die meisten davon hatte ich erfuchtelt, indem ich mit dem Smartphone in der Hand den Arm auf und ab schlenkerte. Aber woher sollte die App das wissen? Aus Wut, Trotz und Dummheit erwedelte ich mir tags darauf auf dieselbe Weise sogar 351 Sit-ups. Meine Arme spürte ich danach kaum noch. Immerhin: Gestern sollte ich plötzlich 20 Wiederholungen machen – und zwar ohne Pause. Danach erschallten gloriose Fanfarenklänge. Ich erfuhr, dass ich Level eins geschafft hatte und nie wieder Sit-ups machen musste, es sei denn, ich holte mir das kostenpflichtige Update. Oh, Mann! Schimpfend installierte ich das Ding.

Heute morgen also beginne ich das Training mit der Profi-Sit-up-App. 78 Wiederholungen. Waaas?! Gestern noch 20! Heute 78? Sind die wahnsinnig? Noch wahnsinniger bin ich. Denn ich folge den Anweisungen jetzt tatsächlich. Ich schaffe die sogar. Vielleicht kann ich ja auch jeden Tag 78 machen. Dann bin ich noch fitter. So denke ich, offenbar schon total indoktriniert von dieser neoliberalen Wachstumsfanatiker-App – bevor ich diese App hatte, dachte ich nie so leistungsorientiert. Zum Schluss erzittere ich mit meinen muskelkatergeplagten Armen aus Versehen sogar noch einen neuen Rekord. „Nein!“, rufe ich panisch, weil ich immer noch der naiven Vorstellung nachhänge, dass die App sich für meine Rekorde interessiert.

Morgen jedenfalls soll ich 84 Sit-ups machen. Ich beschließe Folgendes: Nach den ersten zehn Sit-ups werde ich auf „abbrechen“ klicken, sodass die App denkt, ich bin schon total am Ende. Haha! Woher soll sie wissen, dass ich heimlich weitertrainiere?

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