Metadebatte Was die alten Griechen mit dem Holocaust zu tun haben oder Über die Diskurs-Strategien im „Historikerstreit“. Eine Entgegnung auf Wolfgang Wippermann
Der Rostocker Althistoriker Egon Flaig hat jüngst in einem für die FAZ stark gekürzten wissenschaftlichen Aufsatz scharf mit Jürgen Habermas abgerechnet. Dieser hätte, so der Kern des Arguments, im Historikerstreit mit Ernst Nolte von 1986 die Mindeststandards wissenschaftlichen Argumentierens aus politischen Gründen beiseite gelassen. Dies komme, so Flaig, einem Bruch nicht nur mit den Prinzipien der Wissenschaft gleich, sondern mit dem philosophischen Erbe der Griechen und damit mit den Fundamenten der europäischen Zivilisation.
Für den Berliner Historiker Wolfgang Wippermann, Schüler Ernst Noltes wie einer seiner größten Kritiker, ist es nur Quark mit Soße, wenn Flaig die „Vergangenheit der Deutschen als Teil der europ
, Schüler Ernst Noltes wie einer seiner größten Kritiker, ist es nur Quark mit Soße, wenn Flaig die „Vergangenheit der Deutschen als Teil der europäischen Kultur“ rekonstruieren und dabei „mindestens zur griechischen Klassik“ vorstoßen will. Dazu fällt Wippermann nur die spöttische Frage ein: „Wie bitte?“ Wippermann hält Flaigs These daher auch für „gescheitert“. Und warum? Ja, „weil ‚Schoah‘ und ‚athenische Demokratie‘ auch nichts miteinander gemein haben, und das eine nicht durch das andere erklärt oder gar entschuldet werden kann“. Nur: Hatte Flaig dieses Beispiel nicht eben genau deshalb ausgewählt – als ein bonum gegen das malum exemplum?Ein vorurteilsfreier Blick in Flaigs Text hilft aufzuklären, worum es ihm eigentlich geht: Nicht so sehr um die Kernfrage des Historikerstreits, nämlich die Singularität von Auschwitz, sondern um die Art und Weise, wie im Jahre 1986 darüber diskutiert wurde. Flaigs Text ist in erster Linie eine Meta-Analyse. Sie rekonstruiert vor allem die Diskurs-Strategie und weniger die eigentlichen Diskurs-Inhalte. Wie genau sah Habermas’ Strategie gegen Nolte aus, der behauptet hatte, dass Auschwitz vorrangig als eine Angst-Reaktion der Nazis auf die bolschewistischen Verbrechen im Gulag interpretiert werden müsste? Sie bestand aus einem einzigen Satz: „Die Nazi-Verbrechen verlieren ihre Singularität dadurch, daß sie als Antwort auf (heute fortdauernde) bolschewistische Vernichtungsdrohungen mindestens verständlich gemacht werden.“Logisch betrachtet ist Habermas’ Schlussfolgerung Unfug. Denn aus der These, dass Hitler auf Stalin reagiert, folgt mitnichten, dass Stalins Taten schlimmer gewesen sein müssen als die Hitlers. Hätte nämlich Hitler überreagiert, ließe sich Noltes Theorie vom „kausalen Nexus“ ganz ohne Widerspruch mit dem Postulat von der „Singularität von Auschwitz“ kombinieren. Und man muss kein Spezialist sein, um zu wissen, dass genau dies Noltes Position war und bis heute ist. In einem Gespräch mit Siegfried Gerlich beteuerte Nolte so noch im Jahre 2005, er halte „nach wie vor daran fest, dass die nationalsozialistische Vernichtung am Ende ‚schlimmer‘ war, weil ein anderer Zusammenhang gegeben war: Hier wurden Menschen aufgrund ihrer biologischen oder ethnischen Qualitäten vernichtet, während sie im Idealtyp der marxistischen Revolution eigentlich nur auf ihre ursprüngliche Gleichheit – gegen die sie gleichsam verstoßen hatten, insofern sie zur herrschenden Klasse gehörten – zurückgebracht werden sollten. Im Prinzip hätte es also auch ohne Todesopfer abgehen können.“Ernsthaftes DenkenMan weiß nicht, worüber man sich mehr wundern soll, ob über den offenkundigen und unkritisierten Fehlschluss eines der wichtigsten deutschen Philosophen des 20. Jahrhunderts oder darüber, dass namhafte Historiker und Publizisten eben diesen offenbar zum Anlass nahmen, die politischen Fronten zu begradigen: Jürgen Kocka jedenfalls sprach im Zusammenhang mit den Thesen Noltes von einer „Ungeheuerlichkeit“, Heinrich August Winkler nannte ihn einen „Relativierer“, und Rudolf Augstein verstieg sich dazu, eine „neue Auschwitz-Lüge“ am deutschen Nachkriegshorizont ausmachen zu wollen. Seitdem gilt Nolte als Paria der deutschen Geschichtswissenschaft. Angesichts dieser Fakten nimmt es ein wenig wunder, wenn Wippermann seinem akademischen Lehrer attestiert, der Historikerstreit sei schließlich „zugunsten Noltes“ entschieden worden. So einsam, verfemt und weithin unbeachtet wie Nolte seit 1986 sind Sieger wohl eher selten. Doch Wippermann meint damit etwas anderes. Er schließt sich nämlich entgegen der zahlreichen und offenkundigen Befunde in den Schriften Noltes der These Habermas’ an, dass Nolte die Singularität des Massenmords an den Juden bestritten hätte. „Heute“, so Wippermann in dem von mir herausgegebenen Diskussionsband zum 25-jährigen Jubiläum des Historikerstreits, aus dem auch der kritisierte Beitrag Flaigs stammt, finde man in der Geschichtswissenschaft „keinen ernsthaften Denker mehr, der am Singularitätsdogma festhält“. Ein später, schleichender und ganz stiller Sieg Noltes über Habermas also?Ich muss gestehen: Was die „ernsthaften Denker“ der deutschen Geschichtswissenschaft denken, weiß ich nicht. Auch nicht, ob wirklich alle unter ihnen die Singularität von Auschwitz für ein Ammenmärchen halten, wie Wippermann behauptet. Doch selbst im Falle Wippermanns scheint sich der Wechsel vom nicht ernstzunehmenden zum „ernsthaften Denker“ irgendwann während der letzten zwölf Jahre abgespielt zu haben. Im Internet findet sich ein Interview mit ihm von 1999 zum Schwarzbuch des Kommunismus. Er kritisiert dort dessen Autoren unter anderem mit den Worten: „Ich bin (...) entsetzt darüber (...), daß die Thesen, die im Schwarzbuch vertreten werden, soviel Zustimmung finden. Ich hätte nicht gedacht, daß der Konsens über die Singularität von Auschwitz, den wir beim Historikerstreit noch hatten, in der Berliner Republik so schnell verlorengehen würde.“Wippermann bediente sich also noch vor zwölf Jahren selbst jener Diskurs-Strategie, die Habermas 1986 gegen Nolte oder jüngst Micha Brumlik in der taz gegen Egon Flaig in Anwendung brachte: Anstatt in der Sache zu argumentieren, wird eine „Ungeheuerlichkeit“ angeprangert, man wirft dem Beschuldigten eine Verharmlosung von Auschwitz vor oder schreibt ihm im Grunde eine intellektuelle Wiederbelebung des Nationalsozialismus zu. Dabei steht das Postulat von der „Singularität von Auschwitz“ im Zentrum. Selbst wenn wir einmal die Richtigkeit dieses Postulats unterstellen, liegt es keinesfalls fern, die offenkundige Instrumentalisierung historisch außergewöhnlichen Leids für eigene, nicht besonders edle diskurs-strategische Ziele für unangemessen zu halten.Was aber, so mag man fragen, hat dies mit den alten Griechen zu tun? Nehmen wir einen kleinen Umweg: Von manchen postmodernen Verirrungen abgesehen, erfreuen sich die Errungenschaften von Neuzeit und Moderne noch immer einer Zustimmung – eine Kultur der Aufklärung, eine Kultur also, die mit der begründungslosen Perpetuierung historisch gegebener Traditionsbestände bricht und allen Sätzen, mit denen Anspruch auf Wahrheit erhoben wird, eine intersubjektiv nachvollziehbare, allein auf Vernunftgründe gestützte Rechtfertigung abverlangt.Diskurs-strategische ZweckeFlaig sieht in dieser Aufklärungsphilosophie offenkundig nichts anderes als eine Pflanze, deren Samen vor mehr als 2.000 Jahren gesät wurde. Diese Position ist philosophiegeschichtlich und wissenschaftshistorisch gut belegt. Alfred North Witehead etwa war der Auffassung, die Geschichte der abendländischen Philosophie bestehe ohnehin nur aus „Fußnoten zu Platon“, und Wilhelm Nestle interpretierte bereits die Geschichte der antiken griechischen Philosophie als einen Wandel vom „Mythos zum Logos“. Mindestens zu Zeiten Platons hat sich also auch nach Ansicht Flaigs zum ersten Mal jene paradigmatische Transformation vollzogen, die wir meist als eine Leistung der neuen Zeit verstehen und die darin besteht, einen systematischen Unterschied zwischen dem bloßen Meinen und dem tatsächlichen Wissen festzuhalten.Dieser Unterschied ist dabei nichts anderes als die Fähigkeit zum logon didonai, zum Vermögen also, nicht bloß eine Meinung zu haben, sondern deren Richtigkeit auch anhand intersubjektiv nachvollziehbarer Gründe beweisen zu können. Dass Flaig daher mit Blick auf Habermas’ Vorgehen im Jahre 1986 von einem „Kulturbruch“ spricht und einer „weitgehenden Negierung der Errungenschaften des Griechentums“, erscheint vor diesem Hintergrund keinesfalls unplausibel. An die Stelle des „eigentümlich zwanglosen Zwangs des besseren Arguments“ (Habermas) trat bei ihm die Instrumentalisierung des Singularitätspostulats zu diskurs-strategischen Zwecken. Und in der Tat handelt es sich hierbei nicht nur um einen Bruch mit den Errungenschaften des antiken Griechentums sowie den Kriterien zeitgenössischer Wissenschaft, sondern mit den normativen Ansprüchen der Habermasschen „Theorie des kommunikativen Handelns“ selbst.
×
Artikel verschenken
Mit einem Digital-Abo des Freitag können Sie pro Monat fünf Artikel verschenken.
Die Texte sind für die Beschenkten kostenlos.
Mehr Infos erhalten Sie
hier.
Aktuell sind Sie nicht eingeloggt.
Wenn Sie diesen Artikel verschenken wollen, müssen Sie sich entweder einloggen oder ein Digital-Abo abschließen.