Sinkt das grüne Boot?

CHRISTIAN STRÖBELE / BÜNDNIS90/DIE GRÜNEN Wir müssen zentrale Politikpunkte neu definieren

FREITAG: Das grüne Boot durch größere Klarheit der Politik rechtzeitig vor den nächsten Wahlen in sicheres Fahrwasser zu lenken, forderte Bundessprecherin Antje Radcke auf dem Länderrat. Wie soll man sich das vorstellen?

Christian Ströbele: Für mich heißt das, soziale Gerechtigkeit in den Vordergrund stellen, die aktuelle Diskussion ums Sparpaket 2000 konkret und kämpferisch führen: Sozialhilfeempfängern muss das Kindergeld genauso zukommen wie Arbeitern oder Selbstständigen, die, auch wenn sie 10 000 Mark im Monat verdienen, Kindergeld bekommen. Wenn Sozialhilfeempfänger leer ausgehen, ist das offensichtlich ungerecht. Das Zweite:Wir müssen die großen Vermögen zur Kasse bitten. Gerade auch die Gewinner der Einheit. Ob es eine Vermögensabgabe oder eine andere Form der Lastenübernahme geben wird, diskutieren wir noch. Zu meiner Freude hat der Länderrat, wenn auch noch zu wenig konkret, in beiden Bereichen Nachbesserungen angemahnt.

Der von der Presse als "Empfehlung" für den Parteivorsitz kommentierte Beitrag von Renate Künast wertete die bestehenden Koalitions-Kompromisse im Sozialbereich allerdings insgesamt als "gut und schön". Sie vermisste lediglich die Beschreibung der Auseinandersetzung, die den Kompromiss im Bewusstsein der Öffentlichkeit erst zum Kompromiss machen; die Darstellung des grünen Anteils also. Ist das tatsächlich das Problem?

Es ist kein Vermittlungsproblem. Die Wählerinnen und Wähler haben die grüne Politik verstanden, aber viele wollen sie nicht. Wir müssen selbstkritisch zugeben, zu Beginn der Debatte über das Sparpaket haben wir nicht genügend berücksichtigt, dass es in eine soziale Politik eingebettet sein muss. Das hat sich jetzt verändert. Nicht als Ergebnis von Selbstbesinnung, sondern weil die Wähler uns zur Ordnung gerufen haben. Sie haben durch Nichtwahl meiner Partei ein Veto eingelegt, und die Fraktion hat verstanden, dass es so nicht weitergeht.

Wird die Botschaft des Wählers wirklich von allen gleich interpretiert? Rezzo Schlauch hat für die Kritik an der bisherigen Arbeit in der Regierungskoalition den scharfen Begriff von den eigenen Scharfrichtern benutzt ...

Wenn die Wähler ab 1. Januar 2000 oder gar noch früher merken, die Grünen tun, etwa beim Sparpaket oder bei den Begleitgesetzen etwas für sozial Schwache und gegen große Vermögen, dann werden die Wähler das honorieren. Zu Rezzo Schlauch: im Länder- und Parteirat sind Kritiker aus der Fraktion immer wieder attackiert worden. Es gibt Kritiker, deren Positionen haben mit bisherigen grünen Überzeugungen nicht mehr viel zu tun. Sie stehen gegen das Wahlprogramm, etwa bei der Vermögenssteuer. Und es gibt jene - zu denen ich mich zähle -, die auf der Grundlage des Programms Politik, für die wir gewählt worden sind, einfordern. Nicht die schaden dem grünen Ansehen, sondern die, die etwas anderes tun, als vor den Wahlen angekündigt. Jeder darf nachdenken, aber das Ergebnis nicht als Meinung der Partei oder Fraktion oder gar als die neue bündnisgrüne Politik darstellen.

Zählt zu den Ursachen der Wahldebakel nicht vor allem die Veränderung der Militäroption? Es fällt auf - selbst sie kommen nicht darauf zurück -, dass niemand darüber nachdenkt, welche Wählerenttäuschung damit verbunden war.

Da tun sie mir Unrecht. Ich habe sowohl auf dem Länder- wie im Parteirat meinen Eindruck vom Wahlkampf, von den Gesprächen mit Wählern wiedergegeben. Die Zustimmung zu den Nato-Bomben auf Serbien ist für viele entscheidend gewesen, nichts mehr mit uns Grünen zu tun haben zu wollen. Sie wählen uns auch nicht mehr. Ich habe gefordert, dass wir grüne Friedenspolitik neu bestimmen. Sie haben Recht, wenn sie feststellen, dass die Aufarbeitung dieser grünen Beteiligung am liebsten ausgeblendet wird. Das war auch auf dem Länderrat ganz deutlich: Da ist eine Beschlussvorlage eingebracht und verabschiedet worden, in der sehr viel Richtiges über zivile Friedensdienste, die Einschränkung von Rüstungsexporten steht, zu Kosovo kein einziges Wort. Das Thema scheint tabu zu sein. Daran zu rühren, ist offenbar so schmerzhaft, dass selbst in Anträgen zur Friedenspolitik der Grünen nichts dazu vorkommt. Das darf nicht so bleiben. Mir ist passiert, dass am Wahlkampfstand Leute fragen, gerade mich, der ich ja gegen den Kriegseinsatz war, na, sammelst Du wieder Kreuzchen für den Krieg? In den großen Städten, vor allem in den östlichen Ländern werden die Vorurteile so bleiben, wenn wir keine Klarheit schaffen.

Sie wollen gemeinsam für die gemeinsame Sache streiten, heißt es in den veröffentlichten Papieren. Aber was ist die "gemeinsame Sache der Grünen"?

Wir müssen die zentralen Punkte unserer Politik neu definieren und sagen, das ist der Stand unserer Diskussion, diese Entscheidung ist jetzt getroffen, und wir vertreten sie gemeinsam. Leider wird in vielen Bereichen, gerade in der Friedenspolitik und der Frage sozialer Gerechtigkeit mit sehr unterschiedlichen Zungen geredet. Die einen sagen, wir wollen eine Vermögenssteuer, ein Prozent, steht im Wahlprogramm. Die anderen sagen, das ist eine bösartige Neidkampagne, das lehnen wir strikt ab. Da kann der Wähler wählen ... Ich gehe davon aus, dass der Parteitag, das höchste Gremium, das Anfang nächsten Jahres zurechtrücken muss.

Ihre Partei träumt von einer klaren Führung. Glaubt sie wirklich, dass das die Stimmung verändert? Die Führung der SPD ist nach dem Weggang Lafontaines klar, Gerhard Schröder hat allein das Sagen, aber das Stimmungstief war damit nicht überwunden ...

Auch straffe Führung wird nichts ändern. Ich halte diese Strukturdebatte für aufgesetzt. Sie wird übrigens sehr viel mehr in den Medien geführt als in der Partei. Auf der Landesdelegiertenkonferenz in Berlin hat sie überhaupt keine Rolle gespielt. Die Bündnisgrünen verlieren die Wahlen nicht, weil sie ein Strukturproblem haben oder keinen Vorsitzenden, sondern weil die Inhalte unserer Politik nicht mehr klar sind. Die Trennung von Amt und Mandat hat ja gerade auf Bundesebene gute Gründe. Wenn die Partei neben Bundestagsfraktion und den Ministern eine eigenständige Rolle spielen will, dann dürfen die Parteiämter und Mandate nicht personenidentisch besetzt sein. Das ging bei Helmut Kohl nicht gut. Wir erleben gerade, dass es bei Schröder ebenso wenig geht. Entweder die Partei wird ein Kanzlerwahlverein und tut nur noch, was offizieller Regierungspolitik entspricht, oder sie braucht eine eigene Stimme. Ich gehe also für die Grünen davon aus, dass es Veränderungen geben wird, aber keinen Generalsekretär und keine einsame Spitze und allenfalls eine partielle Aufhebung von Amt und Mandat.

Der Länderrat hat ein paar Hausnummern für Veränderungen benannt: Modifizierungen des Sozialpakets - aber keine grundsätzliche Distanz -, die Abschaltung von Atomkraftwerken in einem zeitlichen Rahmen - genaue Daten bleiben unbenannt -, konkreter dagegen: Subventionierung von erneuerbarer Energie. Reicht dieses unverbindliche Anknüpfen an tradierte Parteiessentials, um den Abwärtstrend zu brechen?

In der Frage der sozialen Gerechtigkeit und des Sparpakets halten die Berliner, das kann ich wirklich sagen, weil der Berliner Landesverband flügelübergreifend einer Meinung war, es für nicht ausreichend. Aber es ist ein wichtiger Anfang. Mir wäre lieber gewesen, dass man konkret benennt, welche Erhöhung der Sozialhilfe für Familien mit Kindern beschlossen werden muss. Auch wie man die großen Vermögen belasten will, auch wie es mit der Arbeitslosenhilfe in Zukunft weitergehen soll. Wir hatten einiges angeregt, verabschiedet wurde lediglich eine Richtungsentscheidung. Beim Atomausstieg ist das schwieriger. Da bin auch ich dagegen zu sagen, 23,5 Jahre oder 25 Jahre, sonst hat man das Problem, ob ein paar Monate oder ein Jahr mehr noch als Erfolg oder schon als Niederlage gelten. Es ist festgehalten worden, der Atomausstieg muss noch in dieser Legislaturperiode beginnen, die ersten Kraftwerke müssen in dieser Legislaturperiode stillgelegt werden und ein endgültiger Ausstieg wird zeitlich fixiert. Wenn nicht im Konsens, dann per Gesetz. Das ist gegenüber vielen Äußerungen, die man aus der Regierung in den Sommermonaten gehört hat, ein Fortschritt. Was dabei rauskommt, ist immer noch mit einem Fragezeichen versehen. Und was die Glaubwürdigkeit unserer Friedenspolitik angeht: Wir können nicht einfach nur sagen, wir wollen in Zukunft den zivilen Friedensdienst fördern. Wir müssen auch sagen, wie verhalten sich grüne Minister der Bundesregierung, wie verhält sich die Fraktion in Situationen, die der im Kosovo ähnlich sind. Die wird es wieder geben.

Wie repräsentativ ist dieser Länderrat für die Gesamtpartei?

Der Länderrat hat schon häufig anders entschieden als die Bundesdelegiertenkonferenz - der eigentliche Parteitag. Das kann jetzt auch wieder so sein. Bis die BDK tagt, wird noch fast ein halbes Jahr vergehen. Schon die Beschlüsse zur Struktur zeigen, dass das, was noch vor zwei, drei Wochen unabdingbar genannt wurde: eine einsame Spitze, ein Generalsekretär, eine Veränderung des grünen Essentials Quotierung, inzwischen nicht mehr gilt.

Das Gespräch führte Regina General

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